Nukleus
nicht nur damit – du kannst alles, was du willst, daran aufhängen, Fotos, Briefe, Konzertkarten; Bücher, die du gelesen hast; Filme, die dich beeindruckt haben; welche Musik du gern hörst. Je mehr du von dir preisgibst, desto besser lässt sich erkennen, was dir fehlt; warum du in der Situation bist, die dich im Internet nach Hilfe hat suchen lassen.
Das verlangt Vertrauen, denn diese Begriffe führen auch andere zu dir. Wir haben viele Filter entwickelt, die verhindern sollen, dass dein Vertrauen missbraucht wird. Dass falsche Freunde deine Nähe suchen, dich kennenlernen oder benutzen.
Aber der Teufel hat einen Weg gefunden, alle Filter und Schranken zu umgehen. Ich hätte damit rechnen müssen, aber ich war zu blauäugig. Er tarnt sich als Freund und spendet dir vergifteten Trost, wie es seine Art ist. Er spricht mit vielen Stimmen zu dir, unter den ver schiedensten Namen, zahlreichen Identitäten. Er schickt Trolle auf die Bühne. Er nutzt deine Situation aus, lockt mit dem Versprechen, dich zu retten; er lädt dich auf einen Drink ein, statt dir zu helfen, dass du nüchtern bleibst. Einen Drink und noch einen und noch einen; bis er dich da hat, wo er dich haben will.
Wie er dich haben möchte: lebensmüde, hasserfüllt, ohne jede Hoffnung. Bereit alles zu tun, um seine Liebe nicht zu verlieren.
Längst hast du die Seiten von LifeBook verlassen und bist in eine Welt unter der Welt geführt worden, ein Netzwerk unter dem Netzwerk. Deine neuen Freunde wissen, wovon du sprichst, wenn du leidest. Sie wissen, woran du leidest, weil sie es selbst erlitten haben. Sie helfen dir, nach und nach alles zu eliminieren, was zu deinem Unglück beiträgt. Die Realität zu verändern, Stück für Stück zu ersetzen. Mit Mails, Filmclips, Spielen, Chats, Musik. Bis du in einer anderen Realität lebst, di e dich ko mplett verändert.
Liebe, zum Beispiel. Fast immer spielt Liebe eine Rolle, wenn wir unglücklich sind. Liebe, die wir nie hatten oder von der wir zu wenig hatten. Die uns in der falschen Form, auf dem falschen Weg zuteilgeworden ist. Also weg mit der Liebe, denn sie quält mehr, als sie tröstet. Sie richtet die größten Verheerungen in uns an. Deswegen ist es nur vernünftig, uns von ihr als Lebenselixier zu verabschieden. Und wer keine Liebe mehr sucht, ist auf dem besten Weg, für alles andere gewonnen werden zu können. Vor allem für ihr Gegenteil. Deine neuen Freunde bieten dir Ersatz an, den du nur zu gern annimmst, um die Lücke zu füllen.
Er steuert sie. Sie sind er. Sie übernehmen dein Leben für dich. Geben ihm einen neuen Sinn. Ein neues Ziel. Neue Hoffnung.
Der Zug hielt. Ella sah auf, versuchte sich zu orientieren. Musste sie nicht bald umsteigen? Green Park – noch nicht, erst an der nächsten Station, Bond Street. Ihr Blick streifte die anderen Fahrgäste, die um sie herum saßen oder standen. Wie viele von ihnen waren wohl bei LifeBook? Wie viele betrachteten sich als Gescheiterte, waren einsam, krank oder aus anderen Gründen so unglücklich, dass sie nicht mehr leben wollten? Dass jeder neue Tag ihnen alle Kräfte abverlangte, die sie noch aufbringen konnten? Und dass es nur ein paar Clicks benötigt hätte, um sie weiterzulocken ins Netz des Mannes, den Annika den Teufel nannte?
Allerdings funktioniert das nicht bei jedem. Nicht mal bei jedem zweiten oder jedem dritten. Aber bei dir funktioniert es, denn du bist übrig geblieben. Dich haben die Algorithmen an diesen Punkt geführt. Du gehörst zu denen, die bei ihm als »lebende Tote« geführt werden. Menschen, für die Leben nur noch »Überleben« bedeutet. Die vom echten Tod immer nur einen winzigen Schritt entfernt sind.
Vergiss nicht, warum du zu uns gekommen bist; warum er dich von uns weglocken konnte.
Du warst deinem Leben nicht mehr gewachsen. Es hat dich zerstört, einsam zu sein; allein kämpfen zu müssen. Du warst verwundbar, geschwächt durch dein Versagen. Du warst gedemütigt und bereit, auf alles zu verzichten, was dich zu dem gemacht hat, der du warst. Auf alles, was dich zu dir gemacht hat.
Dein ganzes Leben lang hast du versucht, dich deinen Aufgaben zu stellen, um geliebt zu werden, aber es wurden immer mehr Aufgaben, und niemand lohnte es dir. Die Kraft der verwehrten Sehnsüchte hat sich in Säure verwandelt, die dich zerfrisst, in das Gift des Bösen. Ob du es wusstest oder nicht, du hast dich schon lange vorher nach dem Trost der Gruppe gesehnt. Nach ihrer Unterstützung.
Denn jetzt werden die Aufgaben
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