Nukleus
nicht? Ach, und da war noch was. Das schicke ich Ihnen als E-Mail. Mal sehen, ob Sie damit was anfangen können.«
Er beendete seinen Anruf, ohne sich zu verabschieden. Ella hatte ihre Haltestelle erreicht und stieg aus. Im Gehen rief sie ihre LifeBook-Seite auf. Sie hatte keine neuen Freunde gefunden, nur einen Hinweis von einem ihrer kürzlich dazugekommenen Kontakte, Dandelion, der sehnsüchtig auf neue Status-Updates wartete. Wie geht es dir heute mit dem Verlust deiner Freundin? Dandelion erinnerte sie daran, dass Freundschaft ihren Preis hatte: Du musst kommunizieren, sonst können wir dir nicht beistehen, und je mehr wir sind, desto eher können wir dir helfen, viele Schultern tragen mehr als zwei.
Ich will doch keine hundertsiebenunddreißig Freunde haben, dachte sie.
3 6
Der Regen fiel hart und dicht. Ella konnte nicht durch die aufgespannten Schirme um sie herum sehen, aber die Kameras konnten es auch nicht. Die Schirme bildeten ein knatterndes Dach, formten Muster auf den Bürgersteigen, an den Ampeln und Zebrastreifen. Wie Amöben auf dem Glasplättchen unter einem Mikroskop, dachte Ella – so musste es für die Männer in der CCTV-Zentrale vor ihren Bildschirmen aussehen. Und unter dem schwarz glänzenden Amöbenmuster nur Beine und Füße, von Frauen, von Männern, verschwommen durch die Nässe auf den Objektiven, verzerrt von blendenden Scheinwerfern, Laternen und Neonreklamen.
Tori Farrows Wohnung lag im dritten Stock über einem vegetari schen Bistro am Ende einer verkehrsberuhigten Gasse in der Nähe der Metrostation Covent Garden. Als Ella oben klingelte, dauerte es eine Weile, bis sie Schritte hörte. Dann wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet. Die Sicherheitskette war vorgelegt. Toris Gesicht erschien im Türspalt. »Sie sind es«, sagte sie und löste die Kette.
»Ich bin klatschnass«, sagte Ella. »Aber der Regen hat mir geholfen, sie abzuhängen, glaube ich. Ich habe mein Gepäck im Bahnhof in einem Schließfach deponiert, vielleicht könnten wir …«
»Kommen Sie schnell rein!«
Ella trat in die kleine Diele hinter der Tür, die außer mit der Kette noch mit mehreren Schlössern gesichert werden konnte. Die Wärme, die sie empfing, war vermischt mit Toris Parfum, das sinnlich nach Honig duftete. Tori hängte die Kette wieder ein und drehte den Schlüssel im Schloss. »Ziehen Sie bitte Ihre Schuhe aus«, sagte sie.
Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt hellblaue, verwaschene Jeans und eine perlmuttfarbene Seidenbluse, nicht zugeknöpft, son dern nur vor dem Bauchnabel verknotet. Weiter oben formte ein knapp sitzender BH aus dunkelroter Spitze die elfenbeinweißen Brüste zu straffen Halbkugeln. Schwarze Riemchensandaletten gaben den Blick auf zierliche Füße frei. Die Zehennägel waren violett lackiert, genau wie die Fingernägel, und boten einen nachdrücklichen Kontrast zu dem Elfenbeinton der Haut, der sich auch auf den nackten Armen unter den hochgerollten Blusenärmeln wiederfand.
Ella fuhr aus ihren durchnässten Stiefeletten; auf dem Parkett hatten sich bereits kleine schmutzige Lachen gebildet. »Ich hoffe, ich falle Ihnen nicht zu sehr zur Last«, sagte sie.
Tori antwortete nicht, sie lächelte auch nicht, betrachtete Ella nur mit ihren erschöpften braunen Augen. Den Kopf hielt sie leicht zur Seite geneigt, das blonde Haar fiel glänzend auf die nackte Schulterbeuge herab, wo ein weißer Strich eine winzige Erhebung bildete. Auch die Unterarme und der Bauch rund um den Nabel waren mit solchen winzigen blassen Strichen übersät, die Ella schon an den Handgelenken aufgefallen waren.
»Vielleicht gehen wir erst mal in die Küche«, sagte Tori. Sie ging voran, durch den kurzen, schmalen Korridor. Die Lampen an den Wänden waren mit Mosaiken aus gefärbtem Glas verblendet, sodass Diele und Korridor wie von einem fleckigen Kirchenlicht erfüllt wirk ten. Zwischen den Lampen hingen Zeichnungen und Aquarelle, Dar stellungen junger Frauen, leicht bekleidet oder nackt. In einem dunkelrot lackierten Regal standen auf drei Brettern DVDs mit Filmen von Candy Carbonara.
Aus einem Raum am Ende des Korridors kam Musik, irgendetwas von den Rolling Stones. Die Tür zu diesem Raum stand halb offen, und man konnte ein rundes, mit schwarzem Satin bezogenes Bett sehen. Mehrere bunte Gegenstände in verschiedenen Größen lagen darauf, Gegenstände, die allesamt dazu dienten, echte Lust oder echten Schmerz zu bereiten – Cinéma vérité , je nach den Wünschen einsamer Seelen im
Weitere Kostenlose Bücher