Nukleus
da?!«
»Leider nicht. Sie ist immer noch verschwunden. Darüber würde ich gern mit Ihnen sprechen. Ich kann Sie nach der Arbeit hier abholen oder wir treffen uns irgendwo. Wo Sie wollen.«
Das Licht auf dem Gesicht verschwand wie unter dem Schatten einer Wolke. »Ihr ist etwas zugestoßen, nicht?«
»Hat die Polizei nicht mit Ihnen gesprochen?«
»Haben Sie mit der Polizei gesprochen?«
»Ja.«
Auf einmal schien die Wolke Tori ganz einzuhüllen. Wieder blies der Wind ihr die Haare in das blasse Gesicht, sodass es einen Moment wie ausgelöscht wirkte. »Sie wissen es, oder?«, fragte sie leise. »Sie wissen alles.«
»Ich bin nicht sicher«, bekannte Ella. »Ich bin nicht sicher, was ich weiß und was ich nicht weiß. Heute Morgen hatte ich eine Verabredung mit einem anderen Patienten von Annika, einem Mann. Markus Wagenbach. Aber bevor ich mit ihm sprechen konnte, ist er aus dem Fenster gesprungen und …«
»Markus ist tot? War es Selbstmord?«
»Das weiß ich nicht genau.«
»O Gott.« Mit weit aufgerissenen Augen sah Tori dem Taxi hinterher, das aber schon auf der Uferstraße verschwunden war. Ihr Blick zeugte von ohnmächtiger Verzweiflung, aber nur einige Sekunden lang, dann ging etwas in ihr vor, das Gefühl und Verstand gleichzeitig auszuschalten schien; ein Schalter, der umgelegt wurde. »Ist Ihnen jemand hierher gefolgt?«, fragte sie.
»Ich glaube nicht.«
»Hören Sie, ich gebe den Kuchen hier schnell oben ab«, sie schwenkte die Hutschachtel einmal kurz hin und her, »dann habe ich Zeit. Ach, wo wohnen Sie?«
»In einem Hotel in Bayswater.«
»Da können Sie nicht bleiben.« Sie überlegte einen Moment. »Wir machen es anders. Sie können zu mir kommen, meine Wohnung ist groß genug für zwei. Sie sind jetzt auch in Gefahr. Fahren Sie in Ihr Hotel, packen Sie Ihre Sachen und bezahlen Sie die Rechnung. Ich kenne eine Gegend, in der bei den Facebook-Krawallen kürzlich mehrere Überwachungskameras zerstört und noch nicht ersetzt worden sind. Da fahren Sie hin und verschwinden von den Bildschirmen der Polizei. Danach nehmen Sie nicht die U-Bahn, sondern nur Taxis und Busse. Das letzte Stück gehen Sie zu Fuß, bis zu dieser Adresse hier.«
Sie stellte den Karton ab und kritzelte etwas auf einen Zettel, den sie aus einem kleinen Notizbüchlein riss. »Können Sie es lesen?« Sie hielt Ella den Zettel hin. An ihren Unterarmen schimmerten hell mehrere dünne Narben. »Wir treffen uns in zwei Stunden bei mir. Bei Farrow klingeln. Setzen Sie am besten einen Hut auf, eine Sonnenbrille, und ziehen Sie etwas an, das hier noch niemand an Ihnen gesehen hat. Das habe ich von Annika gelernt. Sie ist eine gute Lehrmeisterin in solchen Sachen.«
Tja, dachte Ella, das ist sie wohl. Aber wer ist eigentlich Annika Jansen? Oder wer war sie, als sie noch lebte?
3 5
In der U-Bahn zurück nach Lancaster Gate las Ella erneut Annis Brief. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, als habe sie etwas Wesentliches darin übersehen.
Ich habe dir ja schon in groben Zügen die Idee hinter LifeBook erklärt. Jetzt komme ich zum Beitrag des Teufels. Jemand hat nämlich angefangen, das ganze Projekt umzudrehen. Ich weiß nicht, wer. Ich weiß nicht, warum. Ich weiß nur, wann er angefangen hat und wie er vorgeht, mit welcher ungeheuren Perfidie. Und dass es jemand sein muss, der mich kennt. Den ich kenne. Den ich vielleicht sogar behandelt habe.
Stell dir vor: Du bist völlig am Ende – einsam, verzweifelt, vielleicht krank. Du hast niemanden, an den du dich wenden kannst, keine Familie, keine Freunde oder Bekannte, denen du vertraust. Trotzdem willst du kämpfen, du willst nicht aufgeben. Aber dazu brauchst du Hilfe. Du bist also genau in der Situation, für die wir LifeBook entwickelt hatten. Du findest uns über Google oder eine andere Suchmaschine, wenn du Begriffe wie »Einsamkeit«, »Schmerz«, »Verzweiflung«, »Angst«, »Krankheit«, »Tod« oder »Selbstmord« eingegeben hast. Denn alle diese Begriffe führen dich zu LifeBook. Du klickst uns an und stellst dich vor, fast wie bei den Anonymen Al koholikern, und wirst willkommen geheißen.
Jetzt würden dir erst mal ein paar deiner neuen Freunde und Kontakte etwas von sich erzählen, indem sie dir ihre Profile zugänglich machen, mit allem, was sie von sich preisgeben wollen, um dir die Scheu zu nehmen. Wenn du so weit bist, kannst du dasselbe machen, dazu dient der LifeTree, den du mit den wichtigsten Ereignissen und Menschen deines Lebens schmückst. Aber
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