Nukleus
nach und nach von dir genom men, der Druck nimmt ab, du musst nicht mehr kämpfen. Und immer mehr Freunde sagen dir, dass es gut ist so, bis am Ende nur noch eine – sehr leichte – Aufgabe übrig bleibt. Sie ist so einfach, so verlockend in deinem Zustand. Es ist derselbe Zustand, in dem du dich vorher befunden hast. Aber du empfindest ihn nicht mehr so, denn hier erfährst du ihn als gut, als einfach. Als Verbesserung. Als Paradies.
Natürlich wäre das alles nicht möglich, wenn es diese schöne neue Welt des Netzes nicht gäbe. Wenn nicht eine zweite virtuelle Welt neben der realen entstanden wäre, die nach und nach für dich wirklicher geworden ist als die alte. Sie hat die Algorithmen in dein Leben gelassen, mit deren Hilfe er dich finden konnte. Denn du hast ihm alle Informationen geliefert, die er braucht, um dich zu durchschauen, dein Verhalten berechnen zu können. Finden und führen und zerstören – aber so weit sind wir noch nicht.
Ella, ich versuche zu beschreiben, was er aus denjenigen macht, die die richtigen Voraussetzungen mitbringen. Wahrscheinlich kommt dir das alles völlig unverständlich vor, vielleicht sogar paranoid. Und ich hoffe, es bleibt so. Ich hoffe, er findet dich nicht. Ich weiß, dass er dich sucht.
Zuerst dachte ich, es wäre Danny, der Informatiker, mit dem zusammen ich LifeBook entwickelt habe. Ich kann dir seinen Namen nennen, denn er ist inzwischen tot. Angeblich hat er sich umgebracht. Ich habe ihn damals im Krankenhaus kennengelernt, nachdem Patrick versucht hatte, mich in meine Einzelteile zu zerlegen. Da habe ich einige wirklich luzide Momente gehabt, der Epilepsie sei Dank. Wie auch immer: Danny, der zweite Programmierer, Ronny, und ich, wir drei waren in der Lage, aus Weiß Schwarz zu machen. Wir waren in der Lage, den Teufel im Netz aufzuspüren und ihm das Handwerk zu legen. Das heißt, wir waren es doch nicht, denn Danny und Ronny sind tot. Nur ich bin noch am Leben.
LifeBook wurde entwickelt, um das Böse einzudämmen auf der Welt. Gegen das Leid, das Elend, das Grauen. Wenn jemand zu uns kam, wollten wir nicht alles über ihn wissen, nur so viel wie wir brauch ten, um seiner Seele neue Kraft zu geben. Aber der, der bei uns eingedrungen ist, weiß inzwischen alles über jedes Mitglied. Nicht nur alles, was es uns wissen lassen möchte, sondern mehr, als es selbst weiß.
Denn Algorithmen sind klüger als du, sie erkennen, was du willst und brauchst, bevor du es selbst weißt. Und wenn du es nicht willst oder brauchst, flüstern sie es dir ein. Sie verstärken deine Gefühle, deine Sehnsüchte. Dann wählen sie darunter die aus, die sie befriedigen können, und verstärken sie weiter. Und weiter. So lange, bis die anderen in den Hintergrund treten und du nur noch fühlst und ersehnst, was sie dir zeigen.
»Das alles soll dir gehören, wenn du an mich glaubst.«
Denn wenn ein Mensch berechenbar wird, dann kann man ihn in Zahlen verwandeln, in eine digitale Version seiner selbst. Und was man in Zahlen zerlegen kann, kann man auch aus denselben Zahlen wieder zusammensetzen, nur ein bisschen anders, mit ein paar digitalen Veränderungen, die eine Fähigkeit etwas stärker ausgeprägt, die anderen etwas abgeschwächt. Eine Winzigkeit Empathie weniger, ein paar Einheiten Egoismus mehr. Und dann beginnt die eigentliche Arbeit, die dich zum Mörder macht.
Als Ella den Brief wieder in ihrer Umhängetasche verstaute, fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, ihr Handy abzuhören. Sie schaltete es ein. Sie hatte nur eine neue Nachricht.
»Hier ist Hassan Abdallah, der libanesische Cop, Kripo Berlin«, meldete sich die vertraute Stimme. »Hören Sie eigentlich nie Ihr Handy ab? Sind Sie immer noch in London? Ich wollte mich mal erkundigen, ob sich auf Ihrer LifeBook-Seite in den letzten Tagen irgendetwas getan hat. Irgendwelche Nachrichten oder neue Freunde, von denen ich wissen sollte?«
Er machte eine Pause. »Außerdem ist es uns jetzt gelungen, einen Teil von Kornacks Festplatte zu rekonstruieren. Sie haben doch nach dem Foto gefragt, das er von Ihnen gemacht hat. So wie’s aussieht, sollte es ihm als eine Art Talisman dienen. Sie und das Kind im Rettungswagen. Er dachte wohl, es könnte ihn beschützen. Sie müssen irgendwas in ihm ausgelöst haben, sodass er glaubte, wenn er das Bild anschaut, ist er sicher vor den Abgründen in ihm selbst. ›Sie ist ein guter Mensch‹, hat er da notiert. Hat bloß nicht funktioniert, wie wir wissen. Trotzdem irgendwie irre,
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