Nukleus
Straßentheater-Szenen in einem Bühnenbild, das mehr und mehr von eisernen Rollläden und Feuerleitern bestimmt wurde.
Das Pflaster vor dem Loft in Butler’s Wharf, in dem Johnny Fontane drehte, war bevölkert von streunenden Katzen. Das Tor der Halle stand offen, und Ella ging über den nackten Betonboden zu dem Drahtkäfig, der als Lift diente. Sie drückte auf einen roten Knopf neben dem aus vier Stahlschienen bestehenden Liftschacht. Ratternd und klirrend näherte sich die Fahrstuhlkabine, und als sie da war, schob Ella die Ladeklappe hoch, stieg ein und drückte den Knopf für die oberste Etage. Mit einem Ruck setzte der Fahrstuhl sich wieder in Bewegung.
Schon bevor die Kabine im dritten Stock hielt, hörte Ella Stöhnen und Lustschreie, dazu das Klatschen wie von Ohrfeigen. Eine dicke Betonschicht glitt vorbei, dann konnte sie das von Halbdunkel zerfüllte Loft herabsinken sehen. Ein kurzes Scheppern, gefolgt von einem weiteren Ruck, und die Kabine hielt. Ella schob die Klappe hoch. Das Loft war ungefähr so groß wie ein Tennisplatz. Auf dem Boden ringelten sich schwarze Kabel, die zu einer Insel aus Licht zwischen zwei Betonpfeilern in der Mitte des kahlen, hohen Raums führten.
Die Schläge und Schreie hallten von der Lichtinsel herüber. Ein Mann rief: »Ja, ja, gut, sehr gut, und jetzt schlag sie, schlag sie härter!« Ella hörte wieder etwas klatschen, anders jetzt, und die Frau stöhnte lauter. Der Mann rief wieder: »Ja, schlag sie, gib’s ihr, noch härter, härter, härter! «
Niemand bewachte den Lift, und niemand kümmerte sich um Ella, als sie langsam auf die Szenerie zwischen den Betonpfeilern zuging. Sie sah einen stämmigen Mann, der Schädel kahl wie eine Billardkugel, in einem olivgrünen Unterhemd, einer eng anliegenden Hose mit Leopardenfell-Muster und speckigen Miliärstiefeln, der in gebückter Haltung mit einer Kamera auf der rechten Schulter um eine schwarze Ledercouch herumging und noch lauter schrie als die nackte Frau auf der Couch. »Ja, ja, gut so, mach sie fertig, ja, das ist gut, schlag sie, ich will sie schreien hören, das ist der neue Realismus, Cinéma verité, echte Lust, echter Schmerz!«
Die Frau lag mit dem Oberkörper auf der wulstigen Lehne der Couch, das blonde Haar wie ein goldener Fächer um ihren Kopf gebreitet. Ihr Gesicht, verzerrt von echter Lust oder echtem Schmerz, hob sich der Kamera entgegen, während ein nackter Farbiger sie von hinten nahm und dabei mit einer Ledergerte auf sie einschlug wie auf eine Stute. Rücken und Gesäß der Frau waren mit Schweiß und roten Striemen bedeckt. Auch der muskulöse Farbige glänzte wie eingeölt.
Der Raum war überhitzt, genau wie der Regisseur, der mit dem Scheinwerfer an seiner Kamera über die nackten Hinterbacken des kopulierenden Paars tastete wie ein Heckenschütze mit dem Laser punkt seines Gewehrs. »Und jetzt kommt, Sharon, Benny, los, kommt, kommt, kommt! «
In der Luft hing ein Geruch von Marihuana, Moschus und Schmier öl. Die Fensterscheiben waren schwarz überstrichen, und aus der Decke hingen nackte Drähte, wo eigentlich Lampen hingehörten. An mehreren Stellen hatte sich die über das Mauerwerk gekleisterte Tapete von den Wänden gelöst und hing in Streifen herab wie ausgedörrte Zungen. Die Kabel, denen Ella folgte, führten über den schlecht verputzten Boden zu drei rund um die Couch aufgestellten Scheinwerfern. Ein aufgeklappter Handwerkskasten enthielt mehrere Dildos, ein Paar Handschellen, eine schwarze Ledermaske, außerdem ein halbes Dutzend Tuben und Tiegel mit Gleitcremes, Schminke und künstlichem Blut.
Auf einer Holzbank außerhalb des Scheinwerferlichts saßen zwei weitere, ebenfalls nackte junge Frauen, die Körper bedeckt mit dem falschen Blut, aber echten Schrammen und blauen Flecken. Sie sahen dem Paar auf der Couch zu, mit müden, erloschenen Gesichtern, als fühlten sie nichts mehr, keine Freude, keinen Schmerz, keine Scham. Und als vermissten sie auch nichts davon.
»Bist du das neue Mädchen?«, fragte eine Männerstimme hinter Ella. »Sharon de Sade?«
»Ich bin das alte Mädchen, Ella«, sagte sie und drehte sich um.
Hinter einem der Betonpfeiler saß ein drahtiger Mulatte mit Rastalocken in einem aufblasbaren Sessel aus violettem Kunststoff, mit nichts bekleidet als einem jadegrünen Seidenmorgenmantel, der vorn auseinanderklaffte. Er hatte das rechte Bein angezogen und mit dem Fuß auf das Knie des linken gelegt, damit er sich aus einer Injektionsnadel eine helle
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