Nukleus
Internet.
»Mein Studio«, erklärte Tori, die Ellas Blick bemerkt hatte. »Nachdem ich mit Pornos aufhören musste, habe ich in einem Fitness-Studio gearbeitet, aber da gehe ich nicht mehr hin. Jetzt performe ich für meine Fans im Netz.«
Die Küche war klein und schlecht beleuchtet. Ein runder Camping tisch mit einem rotblau karierten Wachstuch und ein gelber Kunststoff-Klappstuhl stellten die ganze bewegliche Einrichtung dar. Die Hängeschränke über der Anrichte standen offen; darin befanden sich mehrere Kochbücher und etwas Geschirr. An der Tür des Kühlschranks klebten Post-it-Zettelchen in verschiedenen Bonbonfarben. Der Elektroherd war mit Essensresten verkrustet, in der Spüle türmten sich schmutzige Teller und Töpfe. Auf dem winzigen Fensterbrett bildeten Gewürzstreuer, eine aufgerissene Mehlpackung und halbvolle Essig- und Ölflaschen ein Spalier um zwei schmucklose Kerzenständer. Neben dem Heizkörper standen oder lagen Dutzende leerer Flaschen. An der Wand gegenüber von der Tür hing eine bedrohlich wirkende afrikanische Maske mit weißen Augen.
Und ich dachte immer, ich wäre unordentlich, fuhr es Ella durch den Kopf. Sie trat auf ein Bündel ungekochter Spaghetti, die knackend unter ihrer Ferse zerbrachen.
Tori rückte Ella den Klappstuhl hin. »Möchten Sie etwas trinken? Einen Tee vielleicht?«
»Ein Tee zum Aufwärmen wäre nicht schlecht.«
Auf dem Stuhl lag ein schwarzer Strohhut mit breiter Krempe, ein Schal aus türkisgrünem Musselin hing über der Lehne. Um Platz zu schaffen, nahm Tori den Hut und setzte ihn auf, während sie eine Dose Earl Grey öffnete und Tee in ein Sieb gab.
»Wie lange kennen Sie Annika schon?«, fragte Ella.
»Fast drei Jahre.« Tori füllte Wasser in einen elektrischen Schnellkocher, suchte zwei saubere Tassen und legte das Sieb auf eine bauchige Kanne. »Und Sie?«
»Seit unserer Studienzeit. Sind Sie als Patientin zu ihr gekommen?«
»Ja. Aber darüber möchte ich nicht reden.« Tori sah sich in der Küche um, als könnte sie dort ein anderes Gesprächsthema finden. Mit bemüht fröhlicher Stimme sagte sie: »Ich kann Ihnen leider gar nichts zu essen anbieten. Ich dachte, ich esse was auf der Party heute Abend …« Sie zog eine Schublade auf, sah hinein und schob sie wieder zu.
»Das macht nichts«, sagte Ella. »Als Sie zu Annika als Patientin kamen, war sie da schon …«
»Sie meinen, ob sie da schon die Anfälle hatte? Ja, hatte sie. Das hat mir sehr geholfen. Dass sie auch nicht … nicht gesund war. Und dass sie wusste, wozu Männer fähig sind.«
»Waren Sie gern bei ihr?«
»Ja. Sie war wie … wie eine große Schwester.« Tori öffnete die Kühlschranktür. »Sie hat mich beschützt. Sie hat mir geholfen, als … als es mir ganz schlecht ging. Ich habe noch etwas Cheddar, und irgendwo muss noch Knäckebrot sein …«
»Knäckebrot – prima!« Ella versuchte, begeistert zu klingen. Sie hatte den ganzen Tag über kaum etwas gegessen. »Haben Sie in dieser Zeit andere Patienten von ihr kennengelernt?«
»Ein paar. Solche, die zu mir passten. Manchmal hat Anni Gruppen zusammengestellt, von Patienten mit ähnlichen Symptomen oder ergänzenden Seelenfähigkeiten, wie sie das genannt hat.«
»Wie Markus Wagenbach?«
»Ja.«
»Und Elliot Trout?«
»Wer ist das?«
»Auch ein Patient von ihr. Wohl ein etwas unbeherrschter Typ, vielleicht sogar ein bisschen unheimlich?«
»Nein. So jemanden hätte Anni nicht in meine Nähe gelassen.« Tori stellte eine Untertasse mit einem Stück Käse und eine angebrochene Packung Knäckebrot auf den Tisch. »Wissen Sie, manchmal, wenn sie über Menschen sprach, sagte sie: ›Wir verstehen niemals jemanden ganz – den ganzen Menschen in all seinen Facetten, seine Seele in ihrer Vielschichtigkeit, mit all seinen Seiten. ‹ Das sei die Tragödie bei ihrer Arbeit. Deswegen müssten sich manchmal mehrere Menschen zusammenfinden, um einen zu verstehen und ihm helfen zu können …«
Für einen Moment hatte Ella das Gefühl, Annika vor sich zu sehen, sogar Toris Stimme erinnerte sie an sie. »Und was für ein Mensch war Wagenbach?«, fragte sie und machte sich über Brot und Käse her. Der Cheddar brannte auf ihrer Zunge.
Tori goss das kochende Wasser in die Teekanne. »Er war sehr reserviert, fast schüchtern. Er schien auch nicht viel Erfahrung mit Frauen zu haben. Anni dachte wohl, ich könnte … er und ich könnten uns ergänzen. Er war so klug. So mitfühlend.« Sie sah zur Tür hinüber, als
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