Nukleus
großen Tränensäcken, das wie gebeizt wirkte. Als hätte er lange Zeit zu dicht an einem qualmenden Feuer gestanden, dachte Ella. Seine Augen waren braun, die Pupillen umgeben von trübem, gelblichem Weiß. Graue Bartstoppeln überzogen die fleischigen Wangen bis zum Adamsapfel hinunter, nur unterbrochen von einer sichelförmig gezackten Narbe über dem linken Mundwinkel. Seine ganze Erscheinung wirkte, als wäre sie darauf angelegt, Gleichgültigkeit gegenüber seiner Umwelt auszudrücken. Ich schaue nicht mehr in den Spiegel, schien sie zu sagen, es ist mir egal, wie ich aussehe, weil es mir egal ist, was ihr von mir denkt.
»Mein Vater, Präsident Abou-Khan, will zu seiner Tochter«, sagte der junge Mann in dem weißen Trainingsanzug rechts von ihm. »Du bringst ihn zu ihr, Ärztin.«
Wie das Gesicht seines Vaters zeigte auch seine Miene keinen sanften Zug, nur an der Stärke, die er ebenso ausstrahlen wollte, mangelte es noch. Die Muskeln, die sich unter der eng sitzenden Trainingsjacke abzeichneten, die goldene Rolex und das Kilo Gold in Kettenform um seinen kräftigen Hals mussten als Ersatz herhalten, bis er mit eigenen Narben und natürlicher Autorität auftrumpfen konnte.
»Shirin ist gerade in der Primärdiagnostik«, sagte Ella, »und danach muss sie sofort operiert werden. Später können Sie sie sehen, aber nur kurz.«
»Ich will zu ihr«, beharrte der große Mann, der sich Präsident nennen ließ. »Sofort.« Die kräftige kleine Frau dicht hinter ihm murmelte etwas auf Arabisch, und die vier jüngeren Frauen nickten, wobei sie Ella herausfordernd anblicken. Die anderen jungen Männer standen nur da, breitbeinig, mit geradem Rücken und Lederjacken, die sich über Schultern und Brustkorb spannten. Sie sahen aus, als fühlten sie sich zutiefst beleidigt, weil sie hier stehen und mit einer Frau verhandeln mussten.
»Ihre Tochter schwebt in Lebensgefahr«, sagte Ella. »Sie ist bei der Explosion sehr schwer verletzt worden.«
»Was für Verletzungen?«
»Ein winziges Objekt ist in ihren Schädel eingedrungen und ein anderes in ihre Brust. Es ist uns gelungen, sie zu reanimieren, aber ihr Gehirn war vorübergehend ohne Sauerstoff, und wenn sie nicht sofort …«
»Sie war tot?«, fragte Abou-Khan.
»Ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen.«
»Aber jetzt ist sie am Leben?«
»Ihr Herz schlägt wieder, und sie wird beatmet.«
»Sie wird nicht sterben?«
»Das kann man zu diesem Zeitpunkt nicht mit Sicherheit sagen. Meine Kollegen und ich …«
»Sagen Sie mir, dass Sie nicht wird sterben, Ärztin«, befahl der große Mann.
»Ich hoffe, dass sie am Leben bleibt und wieder ganz gesund wird«, sagte Ella. »Dr. Auster, der die Operation durchführen wird, ist unser bester Neurochirurg.«
»Haben Sie Kinder, Ärztin?«
»Nein.«
Der Mann, der sich Präsident nennen ließ, schwieg gerade lang genug, damit das Nein noch ein paar Sekunden nachklingen konnte. »Beten Sie für Shirin«, sagte er. »Beten Sie zu Ihrem Gott. Ich bete zu meinem.«
»Das ist gut«, sagte Ella. »Wir können alle Gebete brauchen.«
»Ja«, sagte Shirins Vater. »Und Sie beten auch für sich. Denn wenn meine Tochter stirbt, Sie sterben auch.«
Ella dachte, dass sie ihn nicht richtig verstanden hatte, und suchte auf seinem Gesicht, in seinen schwarzen Augen nach einem Zeichen der Bestätigung, doch stattdessen fand sie eine Kälte, die ihr den Atem stocken ließ. »Drohen Sie mir?«, fragte sie. »Haben Sie mir gerade hier vor allen Leuten gedroht?«
Shirin war doch schon tot, dachte sie, ich habe sie ins Leben zurückgeholt.
»Man hat mir erzählt, was Sie getan haben«, sagte Halil Abou-Khan. »Sie haben ihr geholfen. Es gab ein Krankenhaus in der Nähe, aber Sie wollten, dass meine Tochter hierhergebracht wird, viel weiter weg. Bekommen Sie Geld dafür, dass Sie Patienten in diese Klinik bringen?«
»Nein!«, rief Ella. »Die Versorgung kann hier nur schneller erfolgen, und Shirin ist bei Dr. Auster in den besten …«
»Sie ist meine Schneeflocke«, sagte der große Mann, und zum ersten Mal schwankte seine Stimme kurz. »Da, wo ich herkomme, im Libanon, ist Schnee selten, jede Flocke ist einzigartig. Kostbar. Sehr kostbar.«
»Können Sie mir sagen, ob sie einen Herzfehler hat?«, fragte Ella, und als er nicht antwortete, blickte sie die stämmige Frau an, die viel leicht die Mutter war. »Gibt es irgendetwas, das wir wissen müssen, bevor wir sie operieren?«
»Unsere Mutter spricht kein Deutsch«, sagte der
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