Nukleus
Junge. »Du brauchst nicht mit ihr reden.«
Die stämmige kleine Frau griff nach dem Arm ihres Mannes, eine ungeduldige Bewegung, die wie eine Welle durch ihre braunen und schwarzen Gewänder lief. Ein Duft nach Zwiebeln und Zimt stieg aus den groben Stofffalten auf. Der dunkle Flaum über ihrer nussblassen Oberlippe schimmerte feucht, und ihre Augen glänzten wie Schellack. Mit einem Ruck, der an ein pickendes Huhn erinnerte, presste sie ihre Stirn an den Bizeps ihres Mannes. Shirins Vater schien einen kurzen Moment zu erstarren, ließ die Berührung dann jedoch zu. Eine Strähne glatten schwarzen Haars floss unter dem Kopftuch der Frau hervor. Ihre Lippen bewegten sich, ohne dass sie etwas sagte.
»Wie kommen Sie darauf, dass meine Tochter ein krankes Herz hat?«, wollte der große Mann wissen.
»Sie hatte einen Organspenderausweis bei sich«, erklärte Ella. »Selbstgemalt. Wir dachten, sie könnte das gemacht haben, um zu zeigen, wie wichtig es ist, weil sie selbst vielleicht ein fremdes Organ braucht und weiß, dass sie auch jederzeit sterben könnte.«
»Das hat nichts zu bedeuten«, sagte der junge Mann in dem weißen Trainingsanzug mit einem verächtlichen Kopfschütteln. »Sie ist noch ein Kind. Ihr Herz ist gut.«
Einer der anderen jungen Männer griff in die Tasche seiner Lederjacke, weil sein Handy eine kurze Melodie von sich gegeben hatte. Er meldete sich, begrüßte den Anrufer mit einem schroffen »Nerin!« und feuerte eine Salve von abgehackten, kehligen Lauten in das Handy, wobei er seiner Familie den Rücken zuwandte.
Ella hörte, wie eine Stimme über die Lautsprecheranlage rief: »Dr. Jakobs, bitte kommen Sie in OP 1. Dr. Jakobs in OP 1.« Jakobs assistierte Julian bei besonders heiklen Eingriffen, und das bedeutete, sie standen im Begriff, anzufangen. »Ich muss gehen«, sagte sie. »Wenn Sie hier warten wollen, können Sie sich ins Foyer setzen, und wir geben Ihnen Bescheid, wie der Eingriff verlaufen ist, sobald wir Genaueres wissen.«
Shirins Mutter hob den Kopf und sagte etwas, kurz, schnell, mit hoher, klagender Stimme; es klang türkisch oder arabisch. Ihr Mann nickte. »Wir wollen dabei sein«, sagte er. »Bei der Operation.«
»Das geht leider nicht«, antwortete Ella. »Im OP haben nur die Ärzte und Schwestern Zutritt.«
»Es gibt doch einen Raum, von dem aus man sehen kann, wie Ärzte operieren«, sagte er.
»In dieser Klinik nicht.«
Er trat einen Schritt auf Ella zu. »Bitte«, sagte er leise. »Ich weiß, Sie sind ein guter Mensch. Ich kann das erkennen. Ich werde Ihnen Geld geben, sehr viel Geld, und wenn meine Shirin wieder gesund wird …«
»Es reicht mir, wenn Sie mich am Leben lassen«, sagte Ella kühl. Doch dann sah sie, dass er Tränen in den Augen hatte, ein verräterisches Glitzern, das er nicht zu verbergen suchte. »Also gut, ich will sehen, was ich tun kann. Ich spreche mit Dr. Auster. Kommen Sie mit, nur Sie und Ihre Frau!«
Sie deutete auf die Fahrstühle und ging voran, gerade als ein Mädchen von vielleicht siebzehn Jahren mit klappernden Absätzen die breite Treppe vom Erdgeschoss heruntereilte und sofort Shirins Fam ilie ansteuerte, ein Handy ans rechte Ohr gepresst. Das Mädchen trug ausgewaschene, hauteng sitzende Jeans, graue Pumps, eine auberginenfarbene Satinbluse und ein elegantes Wildleder-Jackett. Die Lippen waren blutrot, die Wangenknochen mit Rouge hervorgehoben. Über den großen Augen verliehen zartviolette Lidschatten ihrem Gesicht einen sinnlichen Ausdruck. »Nerin!«, rief der Junge, der telefo niert hatte, bevor er sie mit einer weiteren Salve kurzer, harter Worte empfing.
Sie verstaute ihr Handy in der Jackentasche, zuckte mit den Schul tern und antwortete in derselben scharfen Tonlage. »Ich rede Deutsch, Amal, weil ich hier geboren bin! Wo ist Shirin?« Sie sah sich um, entdeckte ihre Eltern bei den Fahrstühlen. »Papa! Mama!«
Sie wollte ihnen folgen, aber ihr Bruder hielt sie fest, mit aller Kraft, fast wütend. Ella sah, wie sie versuchte, sich loszureißen, und dann, obwohl fast zwanzig Meter zwischen ihnen lagen, bemerkte sie Nerins Blick. Zum zweiten Mal an diesem Abend hatte sie das Gefühl, dass jemand sie ansah, als wäre sie der einzige Mensch, der ihm auf dieser Erde noch helfen konnte.
Du spinnst langsam, dachte sie, und da öffnete sich die Tür des ersten Fahrstuhls und schloss sich wenig später wieder zwischen ihr und Shirins Schwester.
6
Shirin lag unter einer dünnen grünen Decke festgeschnallt auf dem
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