Nukleus
hob den Kopf vom Operationsmikroskop. Er warf einen Blick auf den Saalmonitor, mit schmalen, skeptischen Augen, als wäre er unzufrieden mit dem Bild, das ihm das OP-Mikroskop lieferte. Unwillkürlich beugte Ella sich vor, dichter an die beiden Kunststoffhälften der Tür. Auch Auster neigte sich wieder über das Mikroskop. Er folgte dem Wundkanal, den der Eisenspan durch den Gaumen geschlagen hatte, und versuchte, den Kanal zu erweitern, um mit dem Sauger den Span aus seinem Bett zu lösen.
Plötzlich beschleunigte sich das Pochen des Herzschlags im Lautsprecher. Blut quoll aus dem Wundkanal, und die gespannte Stimmung im Operationssaal schlug um. Auf dem Monitor schien noch alles in Ordnung zu sein, aber Jakobs rief: »Wo kommt denn das ganze Blut her?« Auster sagte: »Ich muss kautern.« Die Instrumentenschwester reichte ihm einen Kauter. Shirins Mutter stieß einen Schrei aus, als spürte sie, in welcher Gefahr ihre Tochter schwebte. Sie sackte auf die Knie, ohne dass es ihrem Mann gelang, sie zu halten.
»Was ist denn da draußen los?«, fragte Auster deutlich hörbar. »Wenn sie sich nicht zusammenreißen, lasse ich die Eltern rauswerfen!«
Halil Abou-Khan stand nur da, nach vorn gekrümmt, mit verzerrtem Gesicht, und starrte auf die Schwingtür und gleichzeitig auf seine Frau, die reglos zu seinen Füßen kniete. Er wirkte wie gelähmt, hilflos; sein Atem kam in keuchenden schnellen Stößen.
Ella war mit zwei Schritten bei der Frau, umfasste mit dem Arm ihre Schultern und legte sie auf die Seite. Die Lider von Shirins Mutter flatterten. Sie packte Ellas Arm so fest, dass sie das Gefühl hatte, ein großer Raubvogel schlüge seine Krallen darum wie um einen Ast. »Helfen«, röchelte sie, »helfen …«
»Dahinten im Schrank neben dem Tisch sind Gläser und eine Flasche mit Wasser«, sagte Ella zu Halil Abou-Khan. Shirins Vater riss sich vom Anblick seiner Tochter im OP los, ging zu dem Schrank, füllte ein Glas mit Mineralwasser und brachte es Ella. »Wie heißt Ihre Frau?«, fragte sie.
»Semira.«
»Trinken Sie das, Semira.« Ella hob den Kopf der Frau ein wenig an und setzte ihr das Glas an die Lippen. Shirins Mutter trank in kleinen Schlucken. Sie richtete sich auf, stützte sich mit dem Ellbogen ab, und gleich darauf schrie sie erneut, während Tränen ihr aus den Augen strömten. »Shirin! Allah! Shirin!«
»Ruhig! Bleiben Sie ruhig!« Ella versuchte sie festzuhalten, aber Semira stieß sie weg, klammerte sich jetzt an das Bein ihres Mannes. Bei jeder Bewegung entstieg ihren Kleidern ein muffiger, ungelüfteter Geruch.
Mit einem Ohr hörte Ella, wie es im OP plötzlich still wurde, kein Laut, kein Pochen, nur ein leiser, anhaltender Piepton, bis Dr. Jakobs erneut rief: »Wo kommt denn das ganze Blut her?« Sie spürte, wie sich ihr Herz verkrampfte. Sie ist tot. Noch immer auf Knien, versuchte Ella, durch den Türschlitz zu schauen. Alles war in Bewegung; das Team versuchte, Shirin zu reanimieren. »Nichts«, sagte der Anästhe sist immer wieder. Das Mädchen lag in dem grellen Licht der OP-Leuchte, umgeben von grüner Hektik, atemlos, reglos, pulslos . Jetzt rief Auster: »Skalpell, schnell!«, und als er wieder zum Monitor blickte, waren seine Augen zornig und gerötet. »Ich mache sie auf.« Helle Schweißtropfen glitzerten auf seiner Stirn, in den Wimpern, den Augenbrauen.
»Willst du nicht lieber einen Herzspezia…?«, begann der Assistent, nickte aber eilig, als er Austers Gesicht sah. »Ich habe keine Zeit!«, sagte Auster. Er nahm das Skalpell aus der Hand der Instrumentenschwester, während die Springschwester die OP-Leuchte dicht an Shirins jetzt nackte, schmale, mit blauen Flecken übersäte Brust heranfuhr.
Shirins Mutter rief wieder etwas, das Ella nicht verstand. »Was ist mit meiner Tochter?«, fragte ihr Mann. »Was passiert da? Sagen Sie mir, was passiert mit unserer Shirin, Ärztin?«
Ella antwortete nicht. Sie wollte etwas sagen, aber sie brachte die Worte nicht über die Lippen.
Auster fuhr mit den behandschuhten Fingern über Shirins Rippen, zählte die Zwischenräume, setzte die Klinge des Skalpells fünf Zentimeter unterhalb der linken Brustwarze an und führte einen langen Schnitt seitwärts. Blut trat hervor, aber weniger als Ella erwartet hatte. Auster rief: »Retraktoren und Säge!«, und die Instrumentenschwester ersetzte das Skalpell durch die elektrische Säge, während Jakobs einen Retraktor ansetzte und danach noch einen zweiten, damit das Gewebe sich nicht
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