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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Operationstisch. Ein halbes Dutzend Schläuche führte zu Kanülen und Kathetern, die in ihren Armen, in der Brust und im Mund verschwanden. Ihr kleiner Kopf war in den Nacken gekippt und wurde von einer Stahlklammer in seiner Position gehalten. Ein Intratrachealtubus steckte zwischen ihren Lippen. Die Augen waren mit Klebeband verschlossen, damit die Lider sich nicht öffneten und die Hornhaut eintrocknete.
    Der Schädel des Mädchens wirkte seltsam alt im grellen Licht der OP-Leuchte. Das vom Blut gesäuberte Gesicht hatte trotz des kleinen Lochs unter dem linken Auge einen friedlichen Ausdruck. Ein Lautsprecher übertrug das rhythmische Geräusch des Respirators, das Piepen des Monitors und das hohle Pochen des Herzschlags aus dem OP in den Vorbereitungsraum, in dem Dr. Auster, Ella und Shirins Eltern standen.
    Shirins Vater hatte seinen Arm um die Schultern seiner Frau gelegt. Ella konnte die Muskeln an seinem Kinn sehen; sie traten so stark hervor, dass sie eigene Schatten warfen. Seine ganze Haltung war angespannt, fast wie ein wildes Tier, das sich auf einen Angriff vorbereitete.
    Dr. Jakobs und zwei Schwestern hatten sich um den OP-Tisch versammelt. Sie trugen grüne Kittel, graue Papierhäubchen und Masken über Mund und Nase, alles sterilisiert und die Haut von Händen und Unterarmen zu fast kosmischer Keimfreiheit gescheuert. Dr. Auster hielt zwei farbige Röntgenaufnahmen in der Hand, die er Shirins Vater zeigte.
    »Bei dem eingedrungenen Objekt handelt es sich um einen Eisenspan vom Umfang eines dünnen Nagels«, sagte er. »Der Span sitzt unglücklicherweise dicht am Hirnstamm und hat dort ein Gefäß verletzt, das jetzt blutet. Ich muss es ligieren, um die Blutung zu stillen. Ein zweiter Eisensplitter steckt in der Brusthöhle. Zuerst werde ich den Span im Schädel entfernen. Dabei werde ich dem Wundkanal folgen, den er unter dem Auge geschlagen hat, dann versuche ich, ihn aus seinem Bett zu lösen.«
    Shirins Vater und seine Frau lauschten stumm, nickten, besorgt, verständnislos. Dr. Auster legte die Röntgenbilder zur Seite. Er zog den Mundschutz an, wusch sich die Hände und ließ sie trocknen. Danach schlüpfte er in den sterilen Kittel, den ihm die OP-Schwester reichte, bevor er die ebenfalls keimfreien Handschuhe anzog. Er ging zu der Schwingtür, stieß sie mit der Schulter auf und trat in den OP. Er beugte er sich erst über den Kopf des Mädchens, dann über das Operationsmikroskop. Er streckte die rechte Hand aus. »Sau ger!« Das Licht wurde gedimmt, bis der ganze OP im Dunkeln lag und es aussah, als sammle alle Helligkeit sich auf Shirins Gesicht und dem grünen Tuch über der Brust.
    Ella spähte durch den Spalt zwischen den Türflügeln zu dem großen OP-Monitor hinüber, auf dem jetzt Shirins linke Gesichtshälfte in mehrfacher Vergrößerung zu sehen war, sodass die von Dr. Jakobs vorbereitete Wundöffnung wie ein Mondkrater wirkte. Sie wusste, dass der kleinste Fehler des Chirurgen lebenswichtige Teile des Gehirns für immer vernichten konnte – ein Zittern des Skalpells, ein halber Millimeter mit dem Sauger zu weit rechts oder links, ein falsch angesetzter Schnitt. Sie konnte Shirins Vater hinter sich atmen hören, atmen und schlucken, und dann fragte er: »Was sehen Sie, Ärztin? Was tut der Doktor?«
    »Er fängt an zu operieren«, antwortete sie.
    Ihr fiel wieder ein, wie sie Dr. Auster vor ein paar Wochen von der Uni abgeholt hatte. Sie war kurz vor Ende seiner Vorlesung gekommen, hatte sich in die letzte Reihe ganz oben im Saal gesetzt und noch gehört, wie er seinen aufmerksam lauschenden Studenten erklärte: »Was Sie also inzwischen wissen müssten – aber darauf möchte ich mich bei Ihnen nicht verlassen – ist Folgendes: Auf der ganzen Welt gibt es nichts auch nur annähernd so Komplexes und gleichzeitig Verletzliches wie das menschliche Gehirn. Der Chirurg am Operationstisch muss in jedem Moment des Eingriffs in der Lage sein, sich dieses hochkomplizierte System aus Nerven und Zellen aus jedem Blickwinkel vorzustellen, sonst wird er selbst zu einer tödlichen Gefahr für den Patienten. Nichts im Gehirn ist isoliert oder isolierbar. Alles hat eine Funktion und steht in einem großen Zusammenhang, jede einzelne Zelle! Eine falsche Bewegung mit Laser, Skalpell oder Sauger, und Sie verändern einen Menschen für immer, vielleicht zerstören Sie ihn sogar.«
    Als hätte auch er sich gerade daran erinnert, hielt Auster plötzlich inne. Er zog den Sauger aus dem Wundkanal und

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