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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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wurde der Tote gefunden«, intonierte er plötzlich wieder klar und laut, kaum dass sie das Taxi verlassen hatten. »Wer hat den Toten gefunden? War der Tote tot, als er gefunden wurde? Wie wurde der Tote gefunden?«
    Ein Schluck direkt aus der Flasche, ein leises Rülpsen, ehe er noch lauter fortfuhr: »Wer war der Tote?« Er nickte bekräftigend. »Wer war Vater oder Tochter oder Bruder oder Onkel oder Schwester oder Mutter oder Sohn des tot und verlassen aufgefundenen Toten?«
    Er senkte die Stimme, stand leicht schwankend auf der nächtlichen Straße im kalten Wind. »War der Tote tot, als er verlassen wurde? War der Tote verlassen? Von wem war er verlassen worden? War der Tote nackt oder gekleidet für eine Reise?«
    Nun beugte er sich vor und ahmte die strenge, sachliche Stimme eines Beamten nach. »Warum haben Sie den Toten für tot erklärt? Haben Sie den Toten für tot erklärt? Wie gut kannten Sie den Toten? Woher wussten Sie, dass der Tote tot war?«
    Er schüttelte den Kopf, grinste, und dann schrie er los, brüllte die Worte empor zum verhangenen Himmel. »Haben Sie den Toten gewaschen? Haben Sie ihm beide Augen geschlossen? Haben Sie den Toten begraben? Haben Sie ihn verlassen zurückgelassen? Haben Sie den Toten geküsst?«
    Nach einem Schweigen, das so lang dauerte, als wäre er mitten auf der Fahrbahn stehend eingeschlafen, wiederholte er leise: »Haben Sie ihn geküsst? Haben … Sie … ihn … geküsst?« Dann schwenkte er die inzwischen halb leere Flasche, hob sie zu einem imaginären Toast und rief: »Pinter. Der Größte. Harold Pinter, Ladies and Gentlemen! «
    Dann standen sie auf einmal irgendwo in Chelsea auf der Straße, und vom Turm einer dunkel aufragenden Kirche fielen einige silberne Glockenschläge. Cassidy ging auf eine Haustür zu und drückte eine vierstellige PIN in das Ziffernschloss. Dann bückte er sich, um nach Ellas Reisetasche zu greifen.
    »Wo sind wir hier?«, fragte Ella.
    »Bei mir zu Hause«, antwortet er. »Da sind Sie erst mal sicher, jedenfalls für ein, zwei Nächte, bis wir was anderes gefunden haben.«
    Wirklich?, dachte sie, bin ich in Ihrer Wohnung tatsächlich sicher, DI Cassidy? So sicher wie Anni? So sicher wie die Toten, die Sie aus dem Spiegel anschauen, wenn Sie hineinblicken?

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    Cassidy sperrte die Wohnungstür auf, knipste das Licht an und stellte Ellas Tasche ab. Der Dielenboden war mit dunkelrotem Teppichboden ausgelegt, auf dem schmutzige Schuhe oder verschüttete Flüssigkeit schwärzliche Flecke hinterlassen hatten. Neben einem eisernen Garderobenständer stand ein abgewetzter, mit moosgrünem Leder bezogener Polstersessel, in dessen zerknautschter Sitzfläche schon einige Nieten fehlten. Davor hielten handgenähte Halbschuhe, Gummistiefel und Sneakers akkurat in Reih und Glied Wache, angetreten auf einem nässegewellten Teil der Times . An der Wand gegenüber hing ein halbblinder, ovaler Großmutter-Spiegel mit vergoldetem Rahmen.
    »Ich geh mal vor«, sagte Cassidy, auf einmal fast verlegen. Die Woh nung war ähnlich geschnitten wie die von Tori Farrow, und der enge Korridor führte an Küche, Bad und Schlafzimmer vorbei zu einem großen Raum, den der Detective Inspector offenbar als Wohn- und Arbeitszimmer nutzte. An einer der dekorativ unverputzten Mauern hing gleich neben der Tür ein Gemälde des Kilimandscharo, an einer anderen ein naturalistisch gemaltes Pferd. Die Mitte des Raums nahm eine ebenfalls moosgrüne Ledercouch ein, von der aus man auf einen Flachbild-Fernseher sah. Ein riesiger Arbeitstisch und ein Teewagen voll mit Spirituosen – Wodka, Whiskey, Tequila, nur hartes Zeug – stellten den Rest der Einrichtung dar.
    Es gab keine Bücherregale, auch keinen weiteren Sessel, keinen Couchtisch und keine Lampe, lediglich eine Reihe greller Punktstrah ler an der Decke. Ein zweiter Spiegel, diesmal ohne Blattgold, präsentierte in der Mitte ein Schwarzweißfoto von Frank Sinatra, alt und aufgeschwemmt im Scheinwerferlicht. Frank hielt ein Whiskeyglas in der erhobenen Hand, darunter stand in roter Schrift: Hope I die before I get old. Neben dem Spiegel gab ein großes Fenster den Blick auf den sternenlosen Himmel frei.
    Auf der Arbeitsplatte neben dem Fernsehschirm stand ein aufgeklapptes iBook. Dahinter türmten sich Aktenordner, Tonbandkassetten und Stapel von Mappen und großformatigen braunen Briefumschlägen. Auf einer davon erkannte Ella Annis Schrift. Ein altmodisches Tastentelefon verschwand fast unter einem Stapel

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