Nukleus
roten Glühbirnen legten ein paar Watt zu, nur das Glitzern in Cassidys Augen blieb.
Ein Gefühl unendlicher Leichtigkeit erfasste Ella. Sie schien nicht länger auf der Bank zu sitzen, sondern über ihr zu schweben. »Sie sind gar nicht so ein Schwein, oder?«, sagte sie und wunderte sich selbst über ihre Worte.
Cassidys Gesicht strahlte immer mehr von der sengenden Energie aus wie eine frisch asphaltierte Straße die Hitze. »Sie haben keine Ahnung, wer oder was ich bin. Sie machen sich gern ein Bild von den Menschen. Sie wollen, dass sie so oder so sind, schwarz oder weiß, gut oder böse. Beste Freunde oder miese Schweine. Aber so einfach ist das nicht. Sie haben keine Ahnung davon, wie die Menschen wirklich sind, haben nicht den leisesten Schimmer davon, was ich sehe, wenn ich in den Spiegel schaue.«
»Was sehen Sie denn?«
»Einen Deserteur«, stieß Cassidy hervor. »Einen Mann, der mit der Scham leben muss, von seinem Platz auf dem Schlachtfeld der Welt weggelaufen zu sein. Der keinen Anstand mehr hat und nicht mehr weiß, wann er das letzte Mal die Wahrheit gesagt hat. Wollen Sie wissen, warum ich Anni immer wieder geschlagen habe? Weil sie mich daran erinnert hat, wie ich mal war. Ich habe mehr Dreck gesehen als die meisten Menschen, mehr Blut, mehr Tote. Wo ist mein Mitleid geblieben, mein Ideal von Gerechtigkeit? Und das Schlimme ist, dass ich nicht mehr weiß, wann es angefangen hat – die Sauferei, die Hurerei, das Unterschieben von Beweismaterial, das Schmiergeld, die Gewalt …«
Er schnippte mit dem Finger in Richtung Tresen und deutete auf die leeren Gläser und die leere Flasche.
»Irgendwann, an einem lang zurückliegenden Tag, habe ich etwas entdeckt, etwas in meinem Leben, das heraushing wie ein einzelner Faden aus einem Pullover. Es schien nur ein loser Faden zu sein, aber dann habe ich daran gezogen und der ganze Pullover hat sich aufge löst. Ich hätte vielleicht noch aufhören können, ganz am Anfang, aber ich habe weitergemacht, aus reiner Neugier, ich wollte herausfinden, wie lange es dauert, bis sich alles in Nichts auflöst. Am Ende ging es immer schneller, und auf einmal war tatsächlich nichts mehr übrig als ein unentwirrbares Durcheinander.«
Eine neue Flasche Paddy’s stand plötzlich auf dem Tisch.
»Auf einmal war ich allein«, fuhr Cassidy fort, »ohne Freunde, und kriegte nicht mehr mit, was um mich herum abging. Was die Zeichen bedeuteten. Damals passierte es zum ersten Mal, dass ich den Mann im Spiegel nicht mehr wiedererkannte und am liebsten weggeschaut hätte. Ich kapierte nicht mehr, was ich sah, wer dieser einsame, leere Mann war. Ich dachte, ich würde verrückt. Aufgeregt suchte ich einen Weg zurück, aber den gab es nicht mehr. Selbst wenn ich meine ganze Kraft mobilisierte, konnte ich nicht wieder der Mann werden, der ich einmal gewesen war. Stattdessen fand ich nur die alte Wut, doppelt und dreifach so heftig wie vorher, und mit ihr verbrannte ich die Reste des Pullovers und wälzte mich so lange in der Asche, bis ich selbst wahnsinnig genug war, um mich dem Wahnsinn der anderen z u stellen. Um den aussichtslosen Kampf wieder aufnehmen zu können.«
Cassidy schenkte sich ein neues Glas ein, diesmal mit Wasser.
»Denn man kann ihn nicht gewinnen«, sagte er schließlich. »Den Kampf gegen das Böse kann man nicht gewinnen, jedenfalls nicht auf dieser Erde. Alles, was man tun kann, ist, den Mächten der Hölle ins Auge zu blicken, auch wenn man dabei sich selbst sieht. Und nicht den Blick niederschlagen vor dem, was man geworden ist. Und die Toten schauen einem über die Schulter. Und die Betrüger, die Diebe, die Mörder. Und die Opfer, die unschuldigen und die, die genauso schlimm waren wie die Täter. Und die Leichen, die ganzen Leichen, die ich sehe, wenn ich in die Hölle schaue, wenn ich in den Spiegel schaue, die Toten neben mir, hinter mir, in mir.«
Irgendwann musste Ella kurz eingenickt sein. Das Nächste, was sie bemerkte, war, wie Cassidy seine Geldbörse hervorholte, einen Schein herauszog und ihn auf den Tisch knallte. Im nächsten Moment waren sie auch schon im Taxi, unterwegs zum Bahnhof, um ihr Gepäck zu holen. Cassidy hatte die fast volle Flasche Paddy’s mitgenommen, und jetzt trank er allein. »Das ist jedes Mal das Schlimmsten, sagte er, inzwischen so undeutlich, dass sie ihn kaum mehr verstand, »wenn man wieder einen Toten findet, allein, und jedes Mal fragt man sich, wann man selbst so gefunden wird und wie, von wem!«
»Wo
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