Nukleus
den Kaffee?«, fragte er.
»Ich habe meinen schon ausgetrunken.«
»Ich meinen auch.« Er schüttete einen großen Schuss Whiskey in den leeren Becher und nahm einen Schluck.
»Um die Sonne herum«, nahm Ella den Faden wieder auf, »gruppieren sich die Sterne – Einath, Canopus, Alphard und die anderen –, die auf dieser Skizze entweder Ereignisse oder Personen oder beides markieren, wobei die Zuordnung der Ereignisse bei Einath und Canopus von Anni stammen, es ist ihre Schrift. Es könnte also sein, dass es sich bei den Namen der Sterne um Codenamen für potentielle Selbstmordkandidaten handelt, die der Usurpator bereits ausgewählt hat, und wenn ein Datum dabeisteht, gibt es auch einen Ort oder ein Ereignis, das schon stattgefunden hat oder stattfinden wird.« Jetzt wusste sie, was die gezeichneten Kreise und Linien bedeuteten, die zwischen einzelnen Sternen verliefen, sie miteinander verbanden oder isolierten. Sie wies mit dem Finger drauf: »Der Ort wird durch die Kreise symbolisiert, nehme ich an, und die Linien den Abstand zwischen Ort und Kandidat.«
»Mit Ereignis meinen Sie Selbstmordanschlag.«
Ella nickte. »Ein Stern leuchtet auf und erlischt. Zu dem Zeitpunkt, zu dem Anni diese Zeichnung in die Hände gefallen ist – wobei wir nicht wissen, wann das war –, gab es drei Termine, die bereits feststanden. Ein Anschlag – der in der Berliner U-Bahn – war erfolgreich. Einer ist gescheitert, und einer wird nicht wie geplant stattfinden, weil die Kandidatin selbst umgebracht wurde. Es ist etwas gewagt, aber ich nehme deshalb an, dass das Programm sich noch im Anfangsstadium, einer Art Testphase, befindet, was immer eine gewisse Zahl von Fehlschlägen mit sich bringt.«
»Dann waren die eingesetzten Kandidaten also so was wie Testpiloten, deren Fehlschläge dazu dienen, das Programm zu justieren.«
»Genau«, bestätigte Ella, »und wenn man davon ausgeht, dass der Usurpator sich selbst als den Kern des Systems sieht, als Nukleus, dann sind die am weitesten entfernten Sterne die, deren Verlust am wenigsten ausmacht, wenn sie scheitern. Je näher sie zu ihm stehen, desto wertvoller und qualifizierter dürften die Kandidaten sein und desto größer auch die Aufgaben, die er mit ihrem Einsatz verbindet.«
»Das heißt, es wird weitere Selbstmordattentate geben.« Cassidy nippte wieder an seinem Whiskey, dessen Aroma in der Luft schwebte. »Und weitere als Selbstmord getarnte Morde. Und wenn das stimmt, was Sie sich da zusammengereimt haben, werden sie auch immer spektakulärer ausfallen. Aber warum? Was bezweckt er damit? Und wer ist der große Unbekannte?«
Ella sagte: »Anni hatte eine Zeit lang den Verdacht, es könnte einer ihrer Patienten sein. Oder jemand, den sie im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit als Therapeutin kennengelernt hat.«
Cassidy fletschte zwei Reihen gelblicher Zähne. »Dass der Typ irre sein muss, steht wohl fest.«
»Ich habe mir gedacht, ob es nicht jemand von LifeBook sein könnte, der Zugriff auf Annis psychologisches Konzept bei der Entwicklung des Netzwerks hatte und weiß, wie die Programmierer bei der Umsetzung vorgegangen sind …«
Ella sprach nicht weiter. Erst jetzt kam ihr in den Sinn, dass es ja auch für ein im virtuellen Raum tätiges Unternehmen eine reale Basis geben musste, Büros, einen Geschäftsführer, Buchhalter, Sekretärin nen, Programmierer, Webmaster. Falls tatsächlich aus dem Untergrund eine psychische Beeinflussung über die Algorithmen von LifeBook stattfand, mussten bestimmte Schlüsseltexte übersetzt werden, damit sie von allen Mitgliedern verstanden werden konnten. Die Filme mussten untertitelt, die geposteten Beiträge vielleicht bearbeitet werden, damit sie ihre maximale Wirkung entfalten konnten. Und wenn hinter all dem nur eine einzige Person steckte, in wie vielen Sprachen konnte sie chatten, Mails schicken, Tweets versenden? Wie viele Helfer musste sie haben und wie viel wussten die von dem eigentlichen Kern des Programms? Gab es so was wie einen oder mehrere Simultandolmetscher, die dem jeweiligen Kandidaten zugeteilt wurden? Wie oft und wie schnell wurden neue Algorithmen geschrieben?
»Wo hat eigentlich LifeBook seinen Firmensitz?«, fragte sie.
»Nirgendwo«, antwortete Cassidy. »Zurzeit jedenfalls. Das war eins der ersten Dinge, die ich überprüft habe. Die Büros existierten nicht mehr. Aufgegeben. Geschlossen wegen Umzugs. Zurzeit nur übers Netz zu erreichen. Neue Zentrale demnächst auf den Kaimaninseln oder Guernsey.
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