Nukleus
Mädchen hatte angefangen, sich auf die Suche nach Anni zu begeben. Sollten sie sich darauf verlassen, dass sie den Anschlag durchführt und dabei umkommt, wie es vorgesehen war? Oder bestand die Gefahr, dass sie vorher noch mehr aus dem Ruder lief und größeren Schaden anrichtete als ein nicht stattfindender Einsatz? Sollten sie nicht doch besser schnell handeln und ihren Selbstmord inszenieren?«
»Wo hat Tori denn nach Anni gesucht?«
»Da, wo ich auch angefangen habe, am ehemaligen Firmensitz von LifeBook. Der Gebäudeverwalter hat gestrahlt wie ein Eimer Kühlwasser aus Fukushima, als er mir von Candy Carbonara erzählte, die kurz vor mir da aufgetaucht war. Das Dumme ist natürlich, dass die andere Seite so von ihrer Suche erfahren hat. Ich nehme an, das gab den Ausschlag bei der Entscheidung, sie zu neutralisieren.«
Neutralisieren. Ella schwieg. Für Sekunden überkam sie ein Gefühl grenzenloser Trauer und Erschöpfung. Sie dachte an das kleine Mädchen aus Toris Erzählung, wie es die ganze Nacht allein auf seine Mutter wartete, und ihr war zum Heulen. Neutralisieren . Dann dachte sie daran, was das Leben aus dem kleinen Mädchen gemacht hatte und wie es gestern gestorben war, und ihr war noch mehr zum Heulen. Neutralisieren. Sie dachte an Shirin und Nerin und Anni und endlich an Julian und eine Frau namens Sam, aber sie heulte nicht. Vielleicht habe ich kein Herz, dachte sie. Neutralisieren.
»Ich begreife das nicht«, sagte sie zornig. »Wo ist da die Logik, einen Menschen zu töten, nur weil er etwas gesehen hat, was er gar nicht einordnen kann. In Berlin hat ein Mann von jemandem den Auftrag erhalten, mich zu neutralisieren , nur weil ich gesehen habe, wie er das Handy des Amokläufers in der U-Bahn an sich genommen hat …«
»Reden Sie von diesem durchgeknallten Junkie-Sanitäter, den man auf YouTube sehen kann?«, fragte Cassidy, die Stimme heiser vom unverdünnten Whiskey. »Du meine Güte, versuchen Sie bloß nicht, so was wie Logik in dem Verhalten eines Drogensüchtigen zu finden, der vorher einer wochenlangen Gehirnwäsche unterzogen worden ist. Vielleicht waren Sie einfach ein rotes Tuch für ihn. Wissen Sie, wie Crystal Meth wirkt? Vielleicht hat er Stimmen gehört. Vielleicht konnte er es nicht ertragen, dass Sie das Leben des Mädchens gerettet haben. Es gibt nicht für alles eine logische Erklärung. Das Leben ist kein Roman, in dem alle Fäden fein säuberlich miteinander verknüpft sind. Dinge geschehen scheinbar ohne Ursache oder Motiv, jedenfalls ohne offensichtliches. Wichtig ist am Ende nur, dass Sie leben und dieser Kornack tot ist. Oder Wagenbach. Oder Hardcore-Candy. Wen kümmert es, warum?«
»Mich kümmert es«, sagte Ella.
4 4
Detective Inspector Patrick Cassidy stand mit dem Rücken zu Ella am Fenster, gegen das immer wieder der Regen schlug. Das Trapez seines Rückens wirkte gewölbt wie das einer Katze in Abwehrhaltung, einer großen, zornigen Katze, die am frühen Morgen bereits zu viel Whiskey getrunken hatte. »Wissen Sie, was das bedeutet?«, stieß er schließlich heiser hervor.
Ella sagte nichts, und er dankte es ihr, indem er weiterredete. »Wenn das stimmt, was wir uns da gerade zusammengereimt haben … ich meine, dass MI6 und BND und wer weiß wer noch sich da so reinhängen?«
»Was dann?«, fragte Ella.
Cassidy drehte sich zu ihr um. Gegen die Fensterbank gelehnt, betrachtete er versonnen den Inhalt seines Kaffeebechers. »Haben Sie schon mal den Namen Hassan ibn Al-Sabbah gehört?« Er sah auf, und Ella zuckte pflichtschuldigst mit den Schultern. »Ein arabischer Sektenführer aus dem 11. Jahrhundert. Er entwickelte eine geniale Methode, sich der absoluten Ergebenheit seiner Gefolgsleute zu versichern. Diese Gefolgsleute wurden Fidais genannt und waren ausschließlich Männer, die schon von frühester Jugend an im Handwerk des Tötens mit einer Vielzahl von Waffen ausgebildet wurden, Säbel, Pfeil und Bogen, Messer, Würgeschlingen, Gift, alles. Sie waren Hassans Elitetruppe, eine verschworene Gemeinschaft, die für ihn durchs Feuer ging. Marco Polo hat nach seinen Reisen davon berichtet, wie unser Freund Hassan die moslemische Vorstellung vom Paradies dazu benutzte, die Angehörigen dieser Elitetruppe zu rekrutieren. Dem Koran zufolge erwarten einen ja bekanntlich nach dem Tod – besonders wenn es sich um einen Märtyrertod handelt – all die fleischlichen Freuden, denen man zu Lebzeiten entsagen muss, Wein, willige Jungfrauen, geile Schafe,
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