Nukleus
darin, andere zu töten. Dass es ihnen dann besser geht. Erst andere und dann sich selbst, zu einem bestimmten Zeitpunkt, der ihnen über das Internet …«
»Wann sind Sie denn auf die Idee gekommen?«
»Gestern Nacht. Tori hat mich darauf gebracht.« Während sie ihm berichtete, was sie von Tori erfahren hatte und auch, was in Berlin passiert war und welchen Zusammenhang es zwischen beidem gab, und während er ihr zuhörte und den Kaffee trank und sein Sandwich mit Ei und Mayonnaise vertilgte, löste er seine Augen nur von dem Bildschirm, um dem Regen zuzuschauen, der gegen das beschlagene Fenster pladderte.
»Das ist Blödsinn«, sagte er, als sie fertig war. »Totaler Quatsch. Ein soziales Netzwerk als Rekrutierungsbüro für Mörder und Selbstmörder? ›Mein Name ist Patrick, und ich bin verzweifelt. Hallo, Patrick. Mein Name ist Ella, und ich will mich umbringen. Willkommen, Ella. Nun gehet hin und tötet!‹ So etwa?«
Ella deutete auf das Sonnensystem auf dem Bildschirm, auf die Sterne mit den Namen Einath, Canopus und Alphard und die Daten der Zwischenfälle in Berlin darunter. »Einath hieß mit wirklichem Namen Oskar Scharnhorst, und er war bei LifeBook. Ein Verzweifelter. Canopus hieß Hanno Kornack, und er war auch bei LifeBook. Auch ein Verzeifelter. Alphard war Tori Farrow, sie hatte ein Profil bei LifeBook. Eine Verzweifelte. Ich glaube, dass sie bei einer Filmpre miere am 17. Oktober hier in London einen Anschlag …«
»Millionen Menschen sind bei LifeBook, wahrscheinlich ist auch ein ganzer Haufen davon manchmal verzweifelt, und der eine oder andere würde auch liebend gern jemanden umbringen, meinetwegen sogar sich selbst, aber wie soll man einen davon – geschweige denn beliebig viele – dazu bringen, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem vorher ausgesuchten Ort in einen Selbstmordattentäter zu verwandeln?«
»Sie haben doch gestern selbst von Terrorismus gesprochen. Terroristen verkehren miteinander über das Internet, sie erhalten ihre Einsatzbefehle via E-Mail, es gibt Organisationen und Zellen, die über YouTube Filme mit Botschaften senden und sich in geschlossenen Foren, zu denen auch Geheimdienste kaum Zugang finden, zu Anschlägen verabreden. So viel weiß sogar ich.«
»Das mit den Terroristen habe ich nur gesagt, weil unser Geheimdienst in die Sache verwickelt ist«, unterbrach Cassidy sie. »Aber gehen wir mal für eine Sekunde davon aus, dass Ihre Theorie stimmt und Anni zu derselben Erkenntnis gekommen ist. Wer hat dann diese Grafik gezeichnet und was genau stellt sie dar?«
»Ich glaube, dass sie aus dem Umkreis des Usurpators stammt, vielleicht von ihm selbst. Es handelt sich um eine grob vereinfachte Skizze des Sonnensystems …«
»Des Usurpators?«
»Der Person, die das LifeBook-Konzept umgedreht hat und nun über so ein geschlossenes Forum für seine Zwecke verwendet«, erklärte Ella. »Samson. Er hat gewissermaßen einen Schattenthron bestiegen und regiert mit seinem Programm die dunkle Seite des Netzwerks, die sich am Sonnensystem orientiert. Dabei nimmt er das Zentrum ein, den Platz der Sonne, um die herum seine Opfer kreisen.«
Cassidy brummte. »Wenn ich Profiler wäre, würde ich mich jetzt begeistert auf das Bild der Sonne und der Planeten stürzen und ein Psychogramm Ihres Usurpators entwickeln – unreif, labil, komplexbeladen, dabei eitel, unbescheiden bis zum Größenwahn, mit dem er seine Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren versucht. Indem er sich selbst zur mythischen Figur stilisiert oder als magisches Naturphänomen inszeniert, übt er eine unwiderstehliche Anziehung auf hilflose, ängstliche Menschen aus, die fasziniert sind von überlebensgroßen, geheimnisvollen Gestalten mit einer düsteren Aura. Wie Hitler. Der Teufel. Oder Elvis.«
»Sprechen wir eigentlich von einem Mann oder einer Frau?«, fragte Ella.
»Beides möglich, in der Anonymität des Netzes kann jeder alles sein. Ich glaube aber, dass so ein destruktives Konzept eher auf einen Mann schließen lässt. Auch Größenwahn in dieser Ausprägung findet sich seltener bei Frauen.«
»Der Codename Samson spricht auch eher für einen Mann«, ergänzte Ella. Ihr Handy gab einen Warnton von sich; ihr Akku war so gut wie leer. »Kann ich das hier irgendwo aufladen?« Sie holte ihre Ladestation aus der Reisetasche. Cassidy zeigte ihr eine leere Steckdose und ging dann mit stampfenden Schritten in die Küche, aus der er mit einer Flasche Whiskey zurückkam. »Auch einen Schuss in
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