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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Tritten die Türen aufsprangen, und dann hörten wir die Feuerstöße und danach noch einzelne Schüsse, von Haus zu Haus. Kaum Geschrei, keine weinenden Mütter oder Kinder, nur die Schritte und die Feuerstöße und die einzelnen Fangschüsse.«
    Er blinzelte ein paarmal heftig, um den zuckenden Muskel zu beruhigen, aber der zuckte nur noch heftiger. »Sie können es hören, nicht?, fragte der Unteroffizier, und ich konnte es hören und sogar sehen, weil es nie mehr weggehen würde. Solange er oder ich lebten, solange irgendjemand lebte, der dabei gewesen war, würde es nicht mehr weggehen. Aber er konnte ja nichts dafür, es war der Teufel, der niemanden mehr zu versuchen brauchte. Deswegen segnete ich ihn, als er fertig war, und sagte: Es ist gut; Gott verzeiht dir. Sie waren unschuldig, sagte er. Bist du sicher?, fragte ich. Im Krieg passieren schreckliche Dinge, das gehört zu seinem Wesen. Krieg gehorcht seinen eigenen Gesetzen, es ist wie auf einem anderen Stern – dem Planeten Krieg. Auf diesem Stern herrschen Zustände, die wir auf dem Planeten Frieden nicht verstehen können. Die Menschen lesen oder hören von Massakern an Zivilisten, von Toten durch Friendly Fire, und finden das schrecklich. Sie verlangen, dass wir zur Verantwortung gezogen, dass wir bestraft werden, weil wir uns nicht wie zivilisierte Wesen verhalten haben. Aber auf dem Planeten Krieg leben keine zivilisierte Wesen. Es sind zwei verschiedene Welten. Du sollst nicht töten, gehört zu der einen. In der anderen ist Töten völlig legitim, denn die Zehn Gebote existieren dort nicht. Aber sie waren unschuldig, sagte er. Unschuld ist relativ, habe ich gesagt, und dann habe ich ihn gesegnet. Die Worte kamen wie von selbst, so selbstverständlich aus meiner tiefsten Seele, dass ich sie für die Worte Gottes hielt. Aber es waren die Worte des Teufels. Und ihr habt dafür gesorgt, dass ich den Unterschied nicht merkte – ja, ihr! «
    Sein schweißglänzendes Gesicht mit dem winzigen zuckenden Muskel verwandelte sich, wurde zu einer Maske des Zorns. Wie unter einem Zwang redete er weiter. »Warum seid ihr geboren worden? Warum lebt ihr noch, während andere sterben mussten? Warum seid ihr nicht auf dem Schlachtfeld gefallen?«
    Er gab seine Hände frei und breitete sie aus, als wollte er der Kamera die Innenflächen zeigen, in denen Stigmata bluteten. »Warum wurde keine Kugel gegossen, um euch zu töten? Das ganze Leben wäre so viel einfacher ohne euch und eure rücksichtslose Selbstgefälligkeit. Eigentlich ist es meine Aufgabe, Menschen zu retten, nicht sie zu verdammen. Offenbar aber … offenbar hat das Schicksal mich zu sei nem Instrument bestellt. Denn der Zeitpunkt ist gekommen, zu dem Gericht gehalten wird über euch … Kriegsgericht sollte ich vielleicht sagen.«
    Hier trat eine Bildstörung auf, sein Gesicht flackerte, leuchtete wie überbelichtet, dann wurde das ganze Display schwarz. Kurz zeigte es nur wellenförmige Linien, verzerrte geometrischen Figuren. Dann kehrte Scharnhorst zurück. Sein Blick war jetzt wie lodernd. Seine Worte schienen für ihn selbst offenbar von einer unwiderstehlichen, drängenden Logik, voller Zorn, voller Selbstmitleid und voller Arg wohn: Während er noch redete, spürte er schon die bittere Kränkung, nicht verstanden zu werden.
    »Es ist nämlich so: Jeder Mensch, der Tod und Zerstörung auch nur ansehen kann, ohne einzuschreiten, trägt den Samen aller Zerstörung in sich. Und ihr seht zu. Ihr tötet. Ihr zerstört. Ihr vernichtet. Seit ich euch kenne, tut ihr das. Ihr seid unfähig zu einem Leben, das diesen Namen verdient. Mit stumpfen Hirnen und blutiger Hand wollt ihr alles um euch herum unter das Joch eurer Bösartigkeit zwingen, bis jedermann eure Qualen teilt. Ich habe euch lange beobachtet und genau studiert und das Grauen gesehen, das in euch wohnt. Ich war in euren Seelen und kenne das schwarze Gewicht, das auf ihnen lastet. Ich kenne das Eis in euren Herzen, das eure Augen mit ewigem Frost beschlägt, sodass ihr in jedem anderen Geschöpf nur euer eigenes erfrorenes Selbst erblickt. Ich kenne die düsteren Umtriebe jedes Einzelnen von euch, eure Hoffnungslosigkeit. Ich höre eure Schreie, die ihr selbst nicht mehr vernehmt. Und ich antworte: Ich urteile, ich spreche Recht. Ich lausche in mich hinein und verkünde, frei nach Augustinus: ›Hass bedeutet, dass ich nicht will, dass ihr seid.‹ «
    Ella musste an das Manifest des koreanischen Highschool-Killers denken, das sie im virtuellen

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