Nukleus
ihren Bildschirmen sitzen Tag und Nacht Beamte, die mehr oder weniger totale Kontrolle über London besitzen. Wenn ich einen von denen anrufe, egal, wo ich bin, können sie mir jeden Bildschirm auf dem Display meines Handys zeigen, mich zu jeder Kamera in jedem Viertel schalten. Sie dürfen es nicht, aber technisch geht es, und die, mit denen ich arbeite, tun es nötigenfalls auch.«
»Aber dann müssten diese Kameras doch auch aufgezeichnet ha ben, wie einer der Killer am Piccadilly Circus auf mich geschossen und dabei eine der lebenden Statuen getroffen hat. Die Queen. Er hat mich verfehlt und die silbern angemalte Queen von ihrem Podest geholt. Sie ist schwer verletzt worden. Wenn Sie die Aufnahmen vorweisen können, ist das kein Beweis dafür, dass der Geheimdienst in was Schmutziges verwickelt ist?«
Cassidy schnaubte. »Wenn es eine solche Aufnahme gegeben haben sollte, existiert sie längst nicht mehr. Und was immer aus Ihrer Queen geworden ist, eine brauchbare Aussage werden wir von ihr auch nicht bekommen.«
Ella blendete seine Stimme und sein Gesicht aus, um sich auf einen Gedankenfetzen zu konzentrieren, der auf einmal in ihr herumflatterte. Dann sagte sie: »Es ist nicht alles.«
»Was ist nicht alles?«
Sie trat an die Arbeitsplatte, auf der sich Annikas Praxisunterlagen türmten. »Das da ist alles, was wir haben, aber es gibt noch mehr!«
Gestern war der Patient, von dem ich dir schon ein paarmal erzählt habe, wieder da. Er ist mir immer etwas unheimlich gewesen, und ich wusste nie genau, warum. Aber beim letzten Termin hat er mir eine echt furchteinflößende Geschichte erzählt, bei der es mir eiskalt den Rücken hinuntergelaufen ist.
Sie nahm ihr Smartphone aus der Ladestation und schaltete es ein. »Ich habe noch eine E-Mail von Anni, in der sie mir von einem Patien ten berichtet hat, der ihr unheimlich war.«
»Wie lange haben Sie das schon?«, fragte Cassidy. »Das Handy?«
»Ein Jahr ungefähr.«
»Sie müssen es loswerden«, sagte er. »So schnell wie möglich. Kopie ren Sie die Daten, die Sie unbedingt brauchen, und dann vernich ten Sie es. Kaufen Sie sich ein paar von diesen Wegwerf-Dingern mit Prepaid-Karten, bis das alles vorbei ist. Für den Anfang kriegen Sie eins von mir, nicht registriert.«
»Wenn Sie hier Annis gesamtes Büro haben«, sprach Ella unbeirrt weiter, um das Handy würde sie sich später kümmern, »dann müssten dabei doch auch ihr Terminkalender und die Sitzungsberichte sein. Sobald ich das Datum der Mail habe, brauchen wir nur noch in ihrem Terminkalender nach den Patienten des Tages davor zu schauen.«
Cassidy ging zu seinem Schreibtisch und griff nach einem ledergebundenen Kalender. »Wie lautet das Datum?«
Ella öffnete ihr Postfach und suchte nach Annis letzten E-Mails, und erst, als sie keine mehr fand, fiel ihr ein, dass sie vor ihrer Abreise alle gelöscht hatte. »Scheiße«, murmelte sie. Sie schloss den Posteingang und schaute im Papierkorb nach, doch den hatte sie diesmal auch geleert. »Verdammter Mist.« Sie schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern, an welchem Tag die Mail, die sie suchte, gekommen sein musste. Am 5. Oktober hatte sie die als Spam aussortierten Nachrichten in ihrem elektronischen Papierkorb entdeckt. Der Papierkorb war so eingestellt, dass er Spam-Mails nur sieben Tage aufbewahrte. Sie erinnerte sich, dass Annis Mails dort bereits vier oder fünf Tage gelegen hatten, die letzten aber einige Tage nach der mit dem unheimlichen Patienten eingegangen waren. »Entweder der 29. oder 30. September oder der 1. Oktober«, sagte sie schließlich.
Cassidy blätterte den Kalender durch, schlug eine Seite auf und fuhr mit dem Finger eine Spalte hinunter, dann wiederholte er den Vorgang auf zwei anderen Seiten. »Achtzehn Patienten, jeweils drei vormittags, drei am Nachmittag, davon fünf Männer. Paul Harris, Mark Robson, Freddie Francis, Elliot Trout und Colin Blain, alle mit Bleistift eingetragen. Hinter den letzten ist mit rotem Filzstift ein Kreuz gemalt.«
Er öffnete einen Karton und entnahm ihm einen Kassettenhalter mit Dutzenden kleiner Kassetten für Diktiergeräte, alle mit Daten und Namen versehen. Nach einigem Suchen fand er sechs mit dem 29. Sep tember, dem 30. September und dem 1. Oktober gekennzeichnete Kassetten. Zwei davon trugen die Namen der männlichen Patienten. »Fangen wir mit dem Kreuz an? Colin Blain?«, fragte Cassidy.
Ella nickte. »Und dann Elliot Trout.«
Er legte die Kassette in ein Diktiergerät,
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