Nukleus
2011?«, fuhr Cassidy fort, »der rechtsradikale Irre, der zwei Bomben in Oslo hochgehen ließ und danach auf der Insel Utöya die Schulkinder ermordet hat, siebenundachtzig Tote insgesamt. Menschen töten andere Menschen, die ihnen nichts getan haben, die nur zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort sind. Die Zahl der Opfer spielt dabei keine Rolle, es kann einer sein, es können Dutzende sein.«
»Aber Anders Breivik hat sich nicht selbst umgebracht«, wandte Ella ein, »und er hat ein Manifest veröffentlicht, aus dem er die Rechtfertigung für seine Taten ableitet. Es gab keinen Film auf YouTube, man hat sein Handy sichergestellt und …«
»Vielleicht war es ja so, dass er versagt hat«, unterbrach Cassidy sie. »Worauf ich hinauswill: Haben diese Leute wirklich auf eigene Faust gehandelt?« Er sah Ella fragend an. »Nun, dass die Fälle scheinbar verschieden gelagert sind und dass es oft keinen gemeinsamen Modus Operandi gibt, macht es schwer, eine überzeugende, das heißt belastbare, und allen gemeinsame Systematik zu erkennen. Aber vielleicht steckt hinter alldem eine ordnende Kraft, die nur ihr Programm oder System noch nicht perfektioniert hat, Trial and Error, so was in der Art. Und …«, er hob eine Hand, wie um einen Einwand ihrerseits zu unterbinden, »deswegen frage ich mich, ob das bedeutet, dass die Spur von Deutschland über Norwegen jetzt nach London zu Tori Farrow führt?«
»Auf der Grafik sind doch weder die Orte Erfurt, Winnenden oder Oslo noch die Daten dieser Amokläufe verzeichnet«, sagte Ella.
Cassidy schüttelte den Kopf. »Vielleicht kam Ihrem sogenannten Usurpator die Idee, dass er die Sonne ist, erst später. LifeBook gab es damals ja auch noch nicht. Könnte doch sein, dass er vorher noch andere Wege ausprobiert hat, Menschen zu manipulieren, und ihm erst mit LifeBook das passende Medium zur Verfügung gestellt wurde. Überhaupt mit den sozialen Netzwerken, bloß dass Facebook schon zu groß geworden war und …«
Jetzt hob Ella eine Hand, um ihn zu unterbrechen, ehe sie den Gedanken, den sie gerade hatte, wieder vergaß. »Das, was sich LifeBook bisher zuordnen lässt – was ins Netz gestellt worden ist und auf YouTube dokumentiert wird –, fand in Berlin statt und ist von Deutschen begangen worden. Aber es könnte sein, dass Sie recht haben und das Ganze langsam auf andere Städte in anderen Ländern ausgedehnt wird, wenn die Schwachstellen identifiziert und mehr und mehr beseitigt worden sind. Deswegen frage ich mich, ob wir nicht nach Deutschen in London suchen sollten, denken Sie an Wagenbach, an den BND in der Deutschen Botschaft …«
Cassidy schwieg und sah sie an. Seine Augen waren jetzt klein und gerötet, wie blaues Eis, in dem Blut versickerte. »Bevor wir die gefun den haben, hat es vielleicht längst den anderen Anschlag gegeben, ent weder am 17. Oktober von jemand anderem als Tori oder an einem anderen Tag, den wir noch nicht kennen.«
»Dann lautet die Frage: Wer, wann und wo?«
»Das sind drei Fragen.«
»Plus Nummer vier: Wie können wir es verhindern? Und vielleicht ist es genau das, was Anni bereits versucht hat«, sagte Ella. »Sie ist mit Sicherheit viel weiter als wir.«
Cassidy bestätigte ihre Bemerkung mit einem Nicken. »Deswegen schwebt sie auch in größter Gefahr.«
»Die eigentliche Frage lautet also nach wie vor: Wo ist sie und wie können wir sie finden?«
»Im Augenblick ist das da alles, was wir haben«, sagte Cassidy und deutete auf die Mappen, Tonbandkassetten und Annikas Computer, auf alles, was er aus der Praxis beiseitegeschafft hatte.
»Handelt es sich nicht um so was wie einen nationalen Notfall?«, wollte Ella wissen. »Können Sie nicht zu irgendeinem Innenminister gehen und ihm schildern, was wir wissen, damit er den Geheimdienst zwingt, das ganze Unternehmen abzubrechen und den Namen des …«
»Was wir wissen?« Er grinste sie höhnisch an. »Lady, wir wissen nichts, wir spekulieren! Glauben Sie, wenn irgendein kleiner New Yorker Cop vor dem 11. September 2001 zu den amerikanischen Behörden gegangen wäre und denen mit irgendeiner Theorie angekommen wäre, dann stünde das World Trade Center noch?«
Ella überlegte. Dann fragte sie: »Sie haben gestern gesagt, Sie wären nicht mir gefolgt, sondern Toris Mördern. Wie haben Sie das gemacht?«
»Der Special Operations Room von New Scotland Yard«, sagte Cassidy. »Die größte Überwachungszentrale der Welt, verbunden mit Tausenden von Kameras in der ganzen Stadt. Vor
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