Nukleus
Jahren verwickelt war, hellbraune Haare, falls nicht gefärbt, Aussehen so und so, falls nicht verändert, ziemlich sicher verwirrt, vielleicht Epileptikerin, vielleicht depressiv, vielleicht aggressiv, vielleicht stumm, vielleicht taub, vielleicht taubstumm …«
»Eine ganze Menge Vielleichts«, meinte Cassidy missmutig.
Aber Ella fühlte sich wie elektrisiert und ließ sich von seiner Stimmung nicht anstecken. »Was weiter bedeutet, wir brauchen Gershenson, und zwar unbedingt. Wenn einer uns helfen kann, den Kreis der infrage kommenden Kliniken einzuengen, dann er. Er weiß vielleicht, mit welchen Krankenhäusern, Ärzten oder Betreuern Annika hier zusammengearbeitet hat. Wohin sie selbst Patienten überwiesen oder wo sie stationär betreute Patienten besucht hat. Über welche Institutionen sie öfter geredet hat, welche Kollegen in ihren Berichten Erwähnung gefunden haben. Vielleicht hat er ihr Empfehlungen gegeben, Kontakte hergestellt, ist mit ihr irgendwo hingegangen, nachdem sie offiziell nicht mehr therapieren durfte. Wir liefern ihm die Vorfälle und Kliniken, auf die wir bei unserer Suche stoßen, er sagt ja oder nein oder vielleicht. «
»Vorausgesetzt, er ist nicht Samson«, sagte Cassidy. »Aber das lässt sich ja feststellen.« Plötzlich schien er hellwach zu sein. Er holte sein Handy heraus, tippte eine Nummer ein und wartete, die Augen fest auf die Fenster der dritten Etage von Gershensons Haus gerichtet. Ella konnte hören, wie eine Stimme dicht an seinem Ohr etwas sagte. »Der Anrufbeantworter«, murmelte er, ehe er unvermittelt losbrüllte: »Doktor Gershenson? Doktor Kenneth Gershenson? Hier spricht DI Patrick Cassidy, New Scotland Yard. Ich weiß, dass Sie zu Hause sind. Wir müssen dringend mit Ihnen sprechen. Es geht um das Verschwinden von Dr. Annika Jansen. Wenn Sie das hören, rufen Sie uns bitte umgehend zurück, unter der Nummer, die Frau Bach Ihrem Sohn gegeben hat.« Seine Stimme nahm einen sanften Ton an, den Ella noch nie bei ihm gehört hatte. »Wir haben bisher davon abgesehen, bei Ihnen zu klingeln oder Ihre Tür zu öffnen und Sie abholen zu lassen, um keine unangenehmen Erinnerungen an das Schicksal Ihrer Familie zu wecken.« Der Ton verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war, und wich wieder dem vertrauten ungeölten Knarren. »Falls Sie sich jedoch nicht bald melden, muss ich andere Maßnahmen ergreifen, und dann kann auch der Geheimdienst Ihnen nicht mehr helfen.«
Er unterbrach die Verbindung und sah Ella an, zufrieden wie ein Kater vor einem Mauseloch. »Jetzt wollen wir mal sehen, wie lange es dauert, bis die Knaben vom Geheimdienst hier aufkreuzen.«
»Was meinten Sie damit – das Schicksal seiner Familie«, fragte sie.
»Immigranten«, erklärte er. »Sein Großvater, Professor Franz-Joseph Gerstensohn, musste Wien 1938 nach dem Anschluss verlassen und ist mit seiner Frau Elisabeth vor den Deutschen nach London geflohen. War Sozialist oder Kommunist oder Journalist, was auch immer, jedenfalls hatte er es sich mit den Nazis verdorben. Seine Geschwister blieben ein bisschen zu lang, sie wurden abgeholt und starben im KZ, obwohl sie nicht mal Juden waren. Hier kriegte er eine Stelle bei der BBC, änderte seinen Namen in Gershenson und machte im Radio Propaganda gegen das Dritte Reich, zusammen mit ein paar anderen Intellektuellen aus Deutschland und Österreich. Ein paar Jahre später, nach dem Krieg, kam unser Kenneth hier auf die Welt und noch ein paar Jahre später seine Schwester Rosalind. Wahrscheinlich mussten er und Rosa sich diese ganzen Emigranten-Geschichten darüber, wie seine Familie verfolgt und umgebracht wurde, rauf und runter anhören, einschließlich No, not in German, my son, say it in English, please, obwohl seine Eltern selbst zu Hause vorzugsweise Deutsch sprachen. Anni hat sein Buch Die nackte Seele gelesen und ihm geschrieben. Er antwortete ihr, sie schrieb ihm wieder, aus dem Briefwechsel wurde eine Bekanntschaft, dann eine Zusammenarbeit, und schließlich wurde er ihre Müllhalde. Wahrscheinlich war sie so etwas wie eine Tochter für ihn, er selbst hatte nämlich keine Kinder. Hat auch nie geheiratet. Nicht wie seine Schwester Rosalind, die es wohl ziemlich bunt getrieben haben muss, selbst nachdem der kleine Oliver aus dem Ei geschlüpft war.«
»Was ist denn aus Olivers Eltern geworden?«, fragte Ella. »Wieso lebt er bei seinem Onkel?«
Der Detective Inspector zuckte mit den Schultern. »So weit bin ich heute Nachmittag nicht
Weitere Kostenlose Bücher