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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Instinkt?« Unwillkürlich ballte sie die Fäuste. »Anni geht jahrelang zu jemandem zur Supervision, hängt ihre Seele vor ihm zum Trocknen auf und erzählt ihm die intimsten Dinge, ohne zu merken, dass sie damit einem Trojanischen Pferd das Tor öffnet?«
    »Vielleicht war bei den beiden mehr im Spiel. Vielleicht standen sie sich nicht nur beruflich nah.« Cassidy starrte ebenfalls durch die Frontscheibe, und Ella fragte sich, was er gerade sah. »Aber wenn Sie schon von Trojanischen Pferden anfangen, dann sage ich Ihnen jetzt mal was: Die Welt könnte heute ein besserer Ort sein, wenn man vor zwanzig oder dreißig Jahren in Kalifornien auf die Idee gekommen wäre, ein paar Nerds in ihrer Garage einfach den Strom abzudrehen und sie auf ihre Zimmer zurückzuschicken, damit sie was Anständiges lernen, nachdem man ihnen ein paar hinter die Ohren gegeben hätte. Aber wie’s aussieht, hat man das wohl versäumt, und deswegen müssen wir jetzt mit geistigen Müllhalden wie Facebook, Twitter, YouTube und LifeBook leben. Das sind die modernen Trojanischen Pferde von heute. Sie treten einem sogenannten sozialen Netzwerk bei, und plötzlich haben Sie lauter neue Freunde, aber was Freundschaft wirklich ausmacht, geht flöten. Da wimmelt es von kaputten Typen, die sich hinter albernen Usernamen verstecken, von Kontakten, die keiner braucht und von geposteten Fotos, die niemand sehen will. Jeder ein Blogger, der seine Pipi-Texte ins Netz stellt. Und da stehen sie dann, umwimmelt von genauso bescheuerten Trollen, die immer und überall auftauchen und jeden noch so abstrusen Gedanken weiter verfälschen und mit ihrer eigenen Jauche zuschütten. Sehen Sie sich doch mal um: überall Trost, der nicht hält, was er verspricht, Tore, die sich auftun und wieder schließen, um sich nie mehr zu öffnen. Brücken ins Nirwana abgefuckter Seelen, wo sie sich mit anderen, genauso kranken Seelen in einem hohlen, leeren Raum tummeln wie in dieser Academy of Solace.«
    Ella hörte nur mit einem Ohr zu; sie musste noch immer an Kornacks Datei denken. Was hatte es mit den Kindern auf sich?
    »Soll ich Ihnen sagen, was aus dem glorreichen Internet geworden ist?«, fuhr der DI mit erhobener Stimme fort, denn hinter ihnen donnerte ein Zug über die Hochgleise des Bahnhofs. »Ein Lokus! Ein öffentliches Scheißhaus, dessen Wände jeder Wichser im Schutz der Anonymität mit Klatsch, Gerüchten und Verleumdungen beschmieren kann. Ein globaler Basar, auf dem Terroristen öffentliche Hinrichtungen inszenieren. Ein klebriger Sumpf, in dem Perverse aller Art ihren abartigen Neigungen nachgehen können und Kinder zum Missbrauch freigegeben sind, Fotos, Filme, Schreie und Samenergüsse inklusive. Eine Kloake des Faustrechts, der Schamlosigkeit, der Menschenjagd. Ein Dschungel, in dem jeder von jedem zu Tode gehetzt werden kann, nur mit einer Webcam, einem Handy. Eine Parallelwelt aus Datenströmen, die von Frustrationen gespeist wird, von Wut und Schmerz und Einsamkeit. Unzählige gebrochene Dämme vor den abgenutzten Tastaturen billiger Computer.
    Ella kramte in ihrer Tasche, bis sie das Etui mit ihren Ausweisen und Bankkarten fand. Was hat es mit den Kindern auf sich?
    Cassidy achtete nicht auf sie. »Man sagt immer, das Netz hätte denen eine Stimme gegeben, die vorher keine hatten. Aber jetzt, wo die sich im Netz Gehör verschaffen und in Blogs und Kommentaren aussabbeln können, wird immer klarer, dass sie völlig zu Recht keine hatten, weil sie nichts zu sagen haben und niemand sie hören will.
    »Kann ich mal das Handy haben?«, fiel Ella ihm ins Wort.
    »Was?«
    »Ich muss telefonieren.«
    »Mit wem?«
    »Geben Sie mir einfach das Handy.«
    Er schüttelte den Kopf und verströmte Wolken von Whiskeydunst, holte aber das Handy aus der Jackentasche. Sie nahm es, stieg aus dem Rover und wählte die Nummer auf der Visitenkarte von Kommissar Abdallah. Eine Windböe fuhr ihr ins Haar und ließ sie die Augen zusammenkneifen. In Berlin war es eine Stunde später als hier, trotzdem meldete der Kommissar sich nach dem dritten Klingeln. »Abdallah. Salaam! «
    »Ella Bach.«
    Eine Pause von zwei Sekunden. »Frau Bach, ich habe schon ein paarmal versucht, Sie zu erreichen. Sie sind doch nicht immer noch in London?« Diesmal war die Verbindung gut; Ella konnte sogar die leisen Kaugeräusche hören.
    »Doch, und ich habe nicht viel Zeit«, sagte sie. »Mir ist etwas eingefallen. Diese Handys – das von Scharnhorst, das der Sanitäter an sich genommen hat, und

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