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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Ein schwacher Fäulnisgeruch schlug ihnen entgegen, vermischt mit der klammen Ausdünstung von kaltem Stein und rostigem Stahl. Die Schienen über ihren Köpfen summten und ächzten, und wenig später erbebte die Luft unter dem ohrenbetäubenden Scheppern des nächsten Zuges.
    Cassidy blieb so abrupt stehen, dass Ella beinahe gegen seinen Rücken geprallt wäre. In den Schatten der Halle stand der Professor neben einer grünen Eisensäule und wirkte wie ein in die Enge getriebenes Tier. Das Rattern der Räder auf den Schienen entfernte sich, sodass sie hören konnte, wie er mit zitternder, erregter Stimme fragte: »Was wollen Sie von mir?«
    »Wir brauchen Ihre Hilfe, Professor Gershenson«, sagte Ella. Sie trat neben Cassidy. »Sie müssen uns helfen, Annika Jansen zu finden.«
    Auch der Professor trat einen Schritt vor, aber immer noch konnte sie nur die untere Hälfte seines Gesichts erkennen, den Teil, der nicht im Schatten der Hutkrempe lag. »Wie stellen Sie sich das denn vor?«, fragte er.
    Cassidy bekam plötzlich einen Hustenanfall und beugte sich vor, um seinen Mund mit der rechten Faust zu bedecken, aber mitten in dem Anfall schoss sein Arm vor, und er packte den Professor und schmetterte ihn mit dem Rücken gegen eine Mauer. Er presste ihm den Unterarm gegen die Kehle, während er ihn gleichzeitig schnell und routiniert mit der anderen Hand abtastete, unter den Achseln, an den Hüften, zwischen den Beinen.
    »Cassidy!«, rief Ella.
    Gershenson rang nach Luft und stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Druck auf seine Kehle zu verringern.
    »Sind Sie verkabelt?«, fragte Cassidy.
    »Was?«
    »Haben die Ihnen ein Körpermikro verpasst?«
    »Was?« Das Erstaunen des Professors war echt, so echt, wie es nur sein konnte.
    »Herrgott, Cassidy!« Ella drängte Cassidy zur Seite, damit er Gershenson losließ. Er hat keine Ahnung, dachte sie. Aber wo sind sie? Wieso wimmelt es hier nicht längst von Agenten des MI6? Warum wird seine Wohnung nicht beschattet? Und dann fragte sie sich: Warum lebt er noch? Das sind doch keine Amateure. Wo, verdammt nochmal, sind sie, und warum haben sie ihn am Leben gelassen?
    »Was hat Colin Blain Dr. Jansen erzählt?«, fragte Cassidy.
    Gershenson antwortete nicht; stattdessen rieb er sich den Hals und räusperte sich mehrmals.
    Ella setzte nach: »In der letzten Therapiestunde, bevor Annika Sie angerufen hat – was hat er da zu ihr gesagt? Die Tonbandaufzeichnung ist an der entscheidenden Stelle gestört, man hört nur ein Rauschen. Danach war sie so aufgebracht, dass sie Blain aus ihrer Praxis geworfen hat. Danach ging es ihr so schlecht, dass sie sich an Sie gewandt hat. Sie muss mit Ihnen darüber geredet haben!«
    »Hat sie«, bestätigte Gershenson heiser und kaum zu hören, denn ein Windstoß fuhr heulend durch die Unterführung.
    »Jetzt reden Sie schon, zum Teufel!«, fuhr Cassidy ihn an.
    »Annika«, begann der Professor, »… Dr. Jansen … hat vor einigen Jahren mit mir Kontakt aufgenommen, nachdem sie mein Buch Das Gute und das Nichts gelesen hatte. Eine Passage hatte sie offenbar sehr beschäftigt. Sie entstammte den Schriften eines deutschen Psychiaters vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Es heißt, dass die Seele des Menschen in ihren tiefsten Tiefen verängstigt werden müsse, durch unerforschliche und scheinbar sinnlose Verbrechen. Verbrechen, die niemandem Nutzen bringen, die nur den einen Sinn haben, Angst und Schrecken zu verbreiten. Denn der letzte Sinn des Verbrechens sei es, eine unbeschränkte Herrschaft des Verbrechens aufzurichten, einen Zustand vollkommener Unsicherheit und Anarchie, aufgebaut auf den zerstörerischen Idealen einer Welt, die zum Untergang verurteilt ist. Wenn die Menschen, vom Terror des Verbrechens beherrscht, vom Grauen und Entsetzen toll geworden sind, wenn das Chaos zum obersten Gesetz erhoben, dann ist die Stunde der Herrschaft des Verbrechens da.«
    Ella schwieg, und auch Cassidy sagte nichts.
    »Das Ziel dieses Programms«, fuhr Gershenson fort, »war laut diesem Dr. Mabuse, dem Bösen auf die Welt zu helfen, es bei der Arbeit zu beobachten und schließlich zu steuern. Der Gedankengang ist natürlich von einer gewissen Schlüssigkeit: Wenn immer nur ein Mensch einen einzigen anderen Menschen zum Bösen verführt, dann ist bald die ganze Menschheit böse. Es wäre schließlich so viel Böses da, dass es automatisch zum Erbgut der Menschheit würde, zu einer neuen Erbsünde, für deren Tilgung kein Christus mehr stirbt.

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