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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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»Das ist passiert.« Seine Augen, sonst strahlend blau, wirkten müde und trüb.
    »Du hast getan, was du konntest«, sagte Ella. »Ihr Herz ist nur nicht stark genug.«
    »Ich habe versagt«, sagte Julian leise, mit einem Ton ungläubigen Staunens in der Stimme. »Wenn ich wirklich getan hätte, was ich konnte, wäre sie nicht ins Koma gefallen.«
    Müde schüttelte er den Kopf und schloss einen Moment die Augen, als könnte er so das Bild des Mädchens verdrängen. Bloß dass das nicht ging, denn das Bild war in ihm; er würde es von nun an immer sehen, bei Tag und bei Nacht und sogar, wenn er schlief. So war es mit denen, die man nicht retten konnte; sie blieben bei einem, auf eine andere, nicht lebendige Weise. Und gerade die, die wie Shirin noch nicht ganz tot waren, die in einem hellen Raum an Maschinen hingen, erwiesen sich als besonders hartnäckig.
    »Es war nicht deine Schuld«, sagte Ella, was gerade genug nach Trost klang, aber nicht zu sehr, sodass es ihn verärgern konnte.
    »Ich hatte den Span beinahe«, redete er weiter. »Sie war wieder stabil, und ich konnte ihn durch das Mikroskop sehen.« Er berührte die Scheibe mit den Fingerspitzen der linken Hand. »Er steckte da im Wundkanal wie ein kleiner glänzender Nagel. Ich brauchte ihn bloß noch rauszuziehen und in den Abfall zu werfen, damit er niemandem mehr wehtut.«
    »Es ist nicht so einfach«, sagte Ella. Sie tat einen Schritt und dann noch einen, bis sie nach seiner Hand greifen konnte. »Du weißt, dass es nicht so einfach ist.«
    »Dann ist er verrutscht.« Julian entzog ihr seine Hand. »Er hat sich verschoben, nur ein winziges Stück … nicht mal ein halber Millimeter … und das Herz … erst hat es wieder angefangen zu schlagen und dann ganz plötzlich aufgehört … zu lang … viel zu lang. Ich habe den Eisenspan entfernt, aber sie verloren.«
    »Du hast sie nicht verloren«, sagte Ella, »und du hast sie auch nicht getötet. Sie ist ins Koma gefallen, aber niemand sagt, dass sie daraus nicht wieder erwacht.«
    Er schwieg. Vom Korridor vor der Tür drangen Stimmen herein, erst leise, dann lauter. »Du hast recht«, sagte Julian. »Eigentlich hast du sie verloren, nicht ich.«
    Die Stille war plötzlich wie ein physikalischer Widerstand, den man berühren konnte. Auf dem Gang kamen Stimmen näher, aber dieser Stille konnten sie nichts anhaben.
    »Was willst du damit sagen?«, fragte Ella und suchte seinen Blick in der spiegelnden Scheibe.
    »Du hast die Erstversorgung des Mädchens auf dem Bahnsteig vorgenommen, und da hättest du sie schon einmal beinahe verloren«, sagte er. Seine Stimme klang, als wäre er gar nicht im selben Raum mit ihr, nicht einmal in derselben Dimension. »Sie hatte einen selbstgemalten Organspenderausweis, der bei ihren Sachen war. Hast du den gesehen?«
    »Nein.«
    »Aber du wusstest, dass sie einen hatte?«
    »Ja, wusste ich, aber …«
    »Davon hast du mir auch nichts gesagt.« Unvermittelt wechselte seine Stimme die Tonlage, wurde scharf. »Was für ein tapferes kleines Mädchen. Es rechnete damit, jeden Augenblick sterben zu können, und wollte mit seinem Tod anderen helfen. ›Alle meine Organe‹, stand da, ›außer das Herz.‹ Warum hat sie wohl diese Ausnahme gemacht?«
    Ella sagte nichts. Sie verstand nicht, was auf einmal mit Julian los war, worauf er hinauswollte.
    »Sie hat wahrscheinlich selbst auf ein Herz gewartet«, fuhr er fort, »und deswegen hat sie den Ausweis gemalt. Sie wusste, dass sie jederzeit sterben konnte, weil sie einen Herzfehler hatte, von dem du mir nichts gesagt hast.«
    »Ich habe es dir nicht gesagt, weil ich überhaupt keine Gelegenheit hatte, mit dir zu reden«, widersprach Ella ungläubig.
    »Du hättest es auf dem Krankenblatt vermerken müssen.«
    »Ich bin in dem ganzen Chaos einfach nicht dazu gekommen«, protestierte Ella, »und im Rettungswagen musste ich mich mit einem verrückten Sanitäter herumschlagen. Außerdem behauptet Shirins Familie, dass ihr Herz völlig in Ordnung sei. Meinst du nicht, wenn das Mädchen etwas wusste, hätten sie es auch gewusst? Es kann noch andere Gründe dafür geben, dass jemand …«
    Sie unterbrach sich, weil sie sich selbst reden hörte und merkte, wie es klang. Dann sagte sie: »Sie musste in jedem Fall operiert werden, und nichts, was ich gesagt oder nicht gesagt habe, hätte daran etwas geändert.«
    »Ich wäre vielleicht anders vorgegangen«, sagte Julian.
    Auf einmal begriff sie, dass es ihm gar nicht um das Mädchen ging.

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