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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Es ging ihm nicht darum, dass er alles Menschenmögliche getan hatte, um Shirins Leben zu retten. Es ging ihm allein um sich, um die Angst, ein Fehler könnte seinen makellosen Ruf beflecken. Er suchte jemanden, dem er die Schuld geben konnte.
    »Ich bin kein Chirurg.« Ella merkte, wie ihre Augen vor Enttäuschung zu brennen begannen. »Ich weiß nicht, ob es eine andere Vorgehensweise gibt. Aber ich weiß, dass ich mir nichts vorzuwerfen habe. Shirin ist nicht tot. Sie kann jederzeit wieder aus dem Koma erwachen.«
    Sie kann aber auch sterben, und dann wird ihr Vater jemanden dafür verantwortlich machen – mich und dich vielleicht auch.
    Julian drehte sich um und sah sie an, jetzt auf einmal wieder ruhig, fast gelassen. »Ich brauche Zeit, um über alles nachzudenken«, sagte er. Er hielt ihrem Blick stand, und da wusste sie, dass es zu Ende ging. Er ist nicht mehr glücklich mit dir, dachte sie. Er denkt daran, dich zu verlassen. Sie wollte das nicht; sie wollte nicht schon wieder allein sein. Du kannst es vielleicht noch ändern, dachte sie. Es liegt in deiner Hand, du kannst das Ruder noch herumreißen. Sag ihm, dass du mit ihm leben willst. Weniger arbeiten, ihn mehr bewundern. Zu ihm aufschauen. Das ist doch Liebe, oder?
    Mit einem Ruck wandte er sich ab, griff nach dem Kaschmirsakko auf der Liege. »Ich möchte mich gern umziehen«, sagte er. »Oder ist noch etwas?«
    Als sie zur Tür ging, glühte ihr Gesicht, als wäre sie geohrfeigt worden. Ehe sie die Klinke drücken konnte, erklang ein Klopfen, und jemand öffnete die Tür, ohne die Aufforderung zum Eintreten abzuwarten.
    »Frau Doktor Bach?« Der Mann war mittelgroß und schlank, mehr konnte Ella im Lichtschein vom Korridor nicht erkennen. »Man hat mir gesagt, dass ich Sie hier finden könnte.«
    »Was fällt Ihnen ein, hier einfach so hereinzuplatzen?«, fuhr Julian ihn an. »Ich möchte nicht gestört werden.«
    Als hätte er ihn nicht gehört, trat der Mann ein, schloss die Tür und sah sich suchend um. »Ist es Ihnen nicht zu dunkel hier drin?«, erkundigte er sich.
    »Sind Sie taub?«, fragte Julian schroff.
    »Es stört Sie doch nicht, wenn ich etwas Licht mache?«, sagte der Mann. Er knipste die Lampe auf Julians Schreibtisch an. Er blinzelte kurz, sah sich dann um. Er schien sich ein Bild von dem Raum zu machen, von dem Mobiliar, von Ella und Julian, von der Situation. Seine Augen waren grau, ebenso wie seine Haare. Er trug Jeans, knöchelhohe Laufschuhe mit abgenutztem Klettverschluss, ein dunkelgrünes Denimhemd und darüber ein kastanienfarbenes Alpacajackett. Um den Hals hatte er einen Schal aus dunkelroter Schurwolle geschlungen und über den linken Arm einen gefütterten Lederparka geworfen, dessen schmutzige Ärmel herunterbaumelten wie die Arme eines Betrunkenen.
    »Wer, zum Teufel, sind Sie?«, wollte Julian wissen.
    Der Mann griff in die Innentasche des Parkas und holte ein Lederetui mit seinem Ausweis darin auf. »Oberkommissar Robert Hagen, LKA«, stellte er sich vor und drehte sich zu Ella um. »Ich muss mit Ihnen reden, Frau Bach.«
    »Worüber?«, fragte Ella.
    Der Polizist verstaute das Etui umständlich wieder in der Jacken-tasche. »Über den Anschlag in der U7 heute Abend.«
    »Hat das nicht Zeit bis morgen? Es ist spät. Ich bin müde. Ich habe eine Patientin, die bei diesem Anschlag schwer verletzt wurde und gerade ins Koma gefallen ist, und wenn ich …«
    »Ich weiß«, unterbrach Hagen sie. »Aber Ihre Patientin war nicht die einzige Verletzte heute Abend, wie Sie wissen. Sie waren ja da. Bis jetzt hat der Anschlag fünf Menschen das Leben gekostet, und im Lauf der Nacht wird die Zahl wohl noch steigen. Vielleicht stirbt sogar Ihr kleines Mädchen. Wer immer dahintersteckt, hat Spuren hinterlassen, aber diese Spuren werden schnell kalt, schneller als die Körper der Opfer in den Kühlkammern der städtischen Leichenhalle. Also, darf ich Ihnen nun ein paar Fragen stellen?«
    »Ich begleite Sie nach draußen«, sagte Ella, ohne Julian noch einmal anzublicken. »Dr. Auster möchte sich umziehen.«

8
    Sie verließen das Büro, aber auf dem schwach be leuchteten Korridor blieb Ella stehen und fragte: »Woher wissen Sie, dass es sich bei meiner Patientin um ein Mädchen handelt?«
    Der Oberkommissar wechselte den Parka von einem Arm auf den anderen. »Es ist eins von drei Opfern, die hierhergebracht wurden. Bei den beiden anderen und den Sanitätern, die sie versorgt haben, war ich schon. Sie habe ich mir für zuletzt

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