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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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wieder zusammenzog.
    Im Vorbereitungsraum war nur das von den Mikrofonen verstärkte Geräusch der rotierenden Schneide zu vernehmen, die sich durch Shirins Brustkorb fräste, und dann Austers Stimme, als er nach den Rippenspreizern verlangte. Er half mit, die Rippen auseinanderzubiegen und festzuklemmen, und jetzt konnte man in den offenen Brustkorb des Mädchens sehen, in dem alles genau da war, wo es hingehörte, das winzige Herz, die Luftröhre, die Lungenflügel, die Arterien, die auseinandergebogenen Rippen, weiße Knochen. Wie das Innere eines großen Fisches, dachte Ella, stell dir vor, es ist nur ein Fisch oder die Brust eines Vogels, kein Kind von neun Jahren. Und sie wusste, dass sie es nicht für sich dachte, sondern für Shirins Mutter, für ihren Vater.
    Aber gleichzeitig war ihr klar, dass das nicht ging. Eltern konnten nicht so denken. Sie konnten nur denken: mein Kind – das sie so nie gesehen hatten und niemals sehen wollten und das vielleicht in diesem Moment starb oder schon tot war, und das Einzige, was sie konnten, war Hoffen und Beten, zu Allah oder Jesus Christus oder zu einem Gott, der gar keinen Namen hatte.
    Mühsam stemmte sich Shirins Mutter wieder hoch, erst mit dem linken, dann mit dem rechten Bein. Sie hielt sich am Arm ihres Mannes fest und wimmerte unaufhörlich, leise, hingegeben an ihren Schmerz.
    Ella hielt die OP-Tür auf, nur ein paar Millimeter, obwohl sie das nicht durfte. Sie sah einen zusammengesackten Lungenflügel, rosa und glitzernd, und dann sah sie, wie Auster seine Hand in den klaffenden Brustkorb schob, und jetzt gab auch Shirins Vater ein verzweifeltes Ächzen von sich angesichts dieses merkwürdigen Zaubertricks. Sehen Sie, meine Hand verschwindet in der Brust eines Mädchens, und nun ist sie verschwunden, und wenn sie wieder auftaucht, wird sie das Herz …
    Aber noch tauchte sie nicht wieder auf, noch blieb sie verschwun den, nur Austers Stimme sagte: »Ich beginne jetzt mit der Herzmassage«, und der Schweiß rann ihm über die Schläfen, glitzernd unter der Haube und in kleinen Bächen den Hals hinunter. Die Springerin tupfte ihm mit einem Tuch die Stirn ab, während er mit sanftem Druck, mit fachkundigen Fingerspitzen begann, Shirins Herz zu massieren.
    Bitte, dachte Ella, bitte! Sie wusste, dass auch Auster das jetzt dachte – Bitte! –, und sie bewunderte ihn in diesem Moment, nein, nicht nur in diesem Moment, sie bewunderte ihn überhaupt, sie war stolz auf ihn, und da erfüllte ein dumpfes Pochen den Raum bis in den letzten Winkel, und der Herzbeutel zwischen Austers Fingern blähte sich auf, fiel aber gleich wieder in sich zusammen. Der Chirurg verstärkte seine Bemühungen, seine Lippen bewegten sich lautlos – stayin’ alive –, seine Augen flehten und versprachen, und ein weiteres Pochen drang aus dem Lautsprecher. Sie kommt zurück , dachte Ella, zum zweiten Mal an diesem Abend kommt sie zurück. Jemand will nicht, dass sie jetzt schon stirbt.
    Vorsichtig zog Auster seine Hand aus dem offenen Brustkorb. Das rhythmische Fauchen des Respirators schien für Sekunden die Atemfunktionen aller Anwesenden zu übernehmen. Die Herztöne folgten einander jetzt von selbst, erst zögernd, dann schneller und endlich regelmäßig hundertmal in der Minute.
    Shirins Mutter hörte auf zu wimmern und fragte etwas in ihrer Muttersprache, in ungläubigem, hoffnungsvollem Tonfall.
    »Sie lebt?«, wollte Shirins Vater wissen. »Meine Tochter lebt?«
    »Ja«, sagte Ella. »Sie lebt.«
    »Sind Sie sicher?«
    »Es ist mein Beruf, das zu wissen.«
    Zehn Minuten später versagte Shirins Herz zum dritten Mal an diesem Tag.

7
    »Wie konnte das passieren?«, fragte Ella leise. »Julian, wie konnte das passieren?«
    Julian Auster stand am Fenster seines Büros und sah in die Nacht hinaus. Er trug immer noch den grünen OP-Kittel, sein blondes Haar war verschwitzt und wirr, sein schlanker Rücken verkrampft. Das Büro lag im Dunkeln, nicht einmal die Schreibtischlampe brannte. Sein Jackett, achtlos auf die Liege an der Wand neben dem Fenster geworfen, wirkte wie ein Erinnerungsstück aus einem anderen, glücklicheren Leben ohne Niederlagen und Verluste.
    Ella stand neben dem Schreibtisch, und plötzlich erschien ihr das kurze Stück bis zum Fenster wie ein unüberwindliches Minenfeld. Sie wollte ihn umarmen, aber sie wusste, dass er jetzt Distanz brauchte, kein Mitgefühl, keinen Trost, niemanden, der ihn festhielt.
    »Ich hätte das Mädchen beinahe umgebracht«, sagte er.

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