Nukleus
aufgehoben, weil Ihre kleine Patientin meinen besonderen Augenmerk verdient.«
»Warum?«
»Wissen Sie denn nicht, wessen Tochter Shirin Abou-Khan ist?«, fragte der Oberkommissar.
»Ich habe die Eltern kurz nach der Einlieferung des Mädchens kennengelernt«, antwortete Ella ausweichend.
»Die werden Sie so schnell nicht wieder los«, meinte Hagen. »Am besten lassen Sie Ihren Sicherheitsdienst Sonderschichten vor der Intensivstation schieben. So wie’s aussieht, schlagen die hier ihre Zelte auf, bis ihre Tochter wieder aufwacht. Oder bis der seidene Faden reißt, an dem sie hängt.«
Ella verschränkte die Arme vor der Brust. »Können wir jetzt zu den Fragen kommen, die Sie mir stellen wollen?«
»Gleich«, sagte Hagen. »Sie haben offenbar keine Ahnung, um wen es sich bei Halil Abou-Khan und seinem Clan handelt.« Er blickte den schwach beleuchteten, leeren Gang hinunter. »Es gibt im Großraum Berlin ein halbes Dutzend schwerkriminelle Großfamilien. Jede hat zwischen dreihundert und siebenhundert Angehörige, und die Abou-Khans sind eine davon. Türkische Kurden, die sich als Libanesen ausgeben, weil sie über den Libanon eingereist sind und behaupten, dort verfolgt worden zu sein, um hier Asyl beanspruchen zu können. Erst kommen nur ein paar, dann holen sie immer mehr ihrer Angehörigen nach, während die ersten hier bereits Kinder in die Welt setzen. Ihre Pässe haben sie gleich nach der Landung auf deutschem Boden verschwinden lassen, damit sie nicht wieder ausgewiesen werden können, weil sie jetzt als Staatenlose gelten, Herkunft ungeklärt, Abschiebung nicht möglich. Andererseits ist es ihnen aber auch verboten, eine geregelte Arbeit aufzunehmen. Sie starten mit einer falschen Identität und legen sich nicht selten noch zig andere zu, und unter jeder einzelnen davon werden sie straffällig. Eine Sippe bringt es ohne Mühe auf ein paar hundert polizeiliche Ermittlungsverfahren.«
Er hob die freie Hand und spreizte die Finger, als könnte er nur im Kontrast mit ihrer beschränkten Zahl die unerhörte Menge der erfassten Untaten illustrieren. »Schon während also unsere ›Staatenlosen‹ auf die Anerkennung als Asylbewerber warten, beginnen sie mit dem bunten Treiben, dessentwegen sie überhaupt in unser kleines irdisches Paradies gekommen sind: Drogenhandel, Schutzgelderpressung, Waffenschmuggel, Zuhälterei, Schleusertätigkeit. Und wenn sie ge rade mal nicht mit Drogen handeln, Waffen schmuggeln, Frauen zur Prostitution zwingen oder Discobesitzer unter Druck setzen, führen sie untereinander blutige Kriege um die lukrativsten Weideplätze.«
»Und warum unternehmen Sie nichts dagegen?«
»Etwas wissen und etwas vor Gericht beweisen können sind zwei Paar Schuhe«, gab Hagen zu. »Leider haben wir hier genug sogenannte Starjuristen, die für die Clans die Lakaien machen. Opfer schweigen, Zeugen werden eingeschüchtert, Polizeibeamte und Rich ter bedroht. Und selbst wenn die sich mal wieder gegenseitig den Schädel eingeschlagen haben, glauben Sie, dann ruft einer von denen die Polizei oder macht auch nur eine Aussage bei uns? ›Das regeln wir unter uns‹, kriegen wir nur zu hören. ›Wir tragen es dem Imam vor oder so was in der Art. Verpisst euch! Und wenn uns nicht gefällt, was der Imam sagt oder die Entschädigungszahlung nicht hoch genug ist, wetzen wir die Messer, laden die Pumpguns und holen die Baseballschläger raus.‹ Blutfehde. Wer da einem aus dem gegnerischen Clan über den Weg läuft, hat geradezu die Pflicht, ihn umzubringen – Friedensrichter hin, Hodscha her …«
Ella warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, aber der Kommissar ließ sich nicht unterbrechen.
»Wenn Sie sich jetzt fragen, ob alle Araber oder Türken hier in Berlin so sind …«
»Frage ich mich nicht«, sagte Ella.
»… dann sage ich Ihnen: Nein!«, fuhr Hagen unbeirrt fort, »nein, die meisten sind friedlich, anständig, arbeitsam. Aber nicht unser Halil und sein Clan hier. Die betrachten uns als Beutegesellschaft. Für die ist Berlin ein rechtsfreier Raum, aus dem sie nicht abgeschoben werden können. Ein euroscheißender Esel. Ein Selbstbedienungsladen. Ein Kuchen, den sie unter sich aufteilen. Auf diesem Markt regeln sie selbst Angebot und Nachfrage. Alle offiziell arbeitslos, fahren aber funkelnagelneue Luxusschlitten und tragen teure Uhren. Sitzen in ihren Teestuben oder Shisha-Bars, befummeln mit der einen Hand ihre Gebetsketten und dirigieren mit billigen Handys in der anderen ihre mit den
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