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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Quecksilber.
    Annikas Blick wanderte von Ella zu Cassidy und weiter zu Gershenson, dann wieder zurück. Langsam ging sie auf Ella zu und umarmte sie. »Anni«, flüsterte Ella. »In was bist du da bloß reingeraten?«
    »Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht kommen«, sagte Annika leise. »Ich habe dich doch angerufen … Du solltest nicht …«
    »Aber ich dachte …
    »Tun Sie das nicht«, fuhr der Junge dazwischen. In seiner aufgeregten Stimme lag eine metallische Rauheit, die nach verspäteter Pubertät klang. Er hob die Hand mit der Granate höher, als wäre sie eine Fackel. »Bitte, tun Sie das nicht.«
    Annika ließ Ella los und drehte sich um. »Was soll ich nicht tun, Oliver?«
    »Drehen Sie mir nicht den Rücken zu, Dr. Jansen!«
    »Seit wann willst du den Menschen, die du umbringst, ins Gesicht sehen?«, fragte Annika. »Warum bist du allein hier? Wo sind denn deine tausend Trolle, deine Sicherheitsfilter und Firewalls?«
    In diesem Moment erkannte Ella das ganze Ausmaß der Situation. Sie betrachtete den Raum, wie jemand auf einer Bühne eine Kulisse betrachten mochte – als etwas, das unwirklich war und zur gleichen Zeit wirklicher als alles andere. Aber sie konnte immer noch nicht glauben, dass der Junge in der Mitte der Bühne, dieser Junge, der fast noch ein Kind war, tatsächlich für das ganze Grauen der letzten Woche verantwortlich sein sollte.
    »Mach jetzt keine Dummheit, Oliver«, sagte einer der beiden schwitzenden Agenten, die in ihren Mänteln und Anzügen auf dieser Bühne seltsam deplatziert wirkten. »Wir sind auf deiner Seite, vergiss das nicht!«
    »Niemand ist auf meiner Seite«, sagte der Junge. Er fuchtelte mit der Granate herum und ging einen Schritt auf sie zu. »Legt eure Pistolen auf den Boden.«
    »Sonst?«, fragte der zweite Agent.
    Der Junge ging noch einen Schritt auf ihn zu und deutete an, den Sicherungsbügel der Granate loszulassen.
    »Hey, ist ja gut«, sagte der erste Agent und griff vorsichtig unter Mantel und Jackett, »ist ja gut. Tu, was er sagt, Connor.« Beide zogen ihre Pistolen mit Daumen und Mittelfingern aus den Holstern und legten sie auf den uneben gehobelten Holzboden.
    Professor Gershenson räusperte sich. »Oliver«, sagte er, um Autorität bemüht, »ich bin sicher, diese Männer haben sich genau überlegt, wie sie dir helfen können. Gib ihnen die … die …«
    »Sei still!«, fuhr Oliver ihm über den Mund. »Ich will nicht, dass du mir sagst, was ich zu tun und zu lassen habe. Ich will, dass niemand etwas sagt, außer Dr. Jansen. Verstanden? Setz dich hin und sei still!«
    Gehorsam sah sich der Professor mit hilfloser Miene nach einer Sitzgelegenheit um. Der Raum war genauso trostlos und unbeseelt wie der Korridor, der zu ihm führte, und die massiven Türen mit dem Maschendraht im Sichtfenster. Die Wände waren tintenblau gestrichen. Die hohe, gewölbte Decke war verrußt von den blakenden Feuern, die früher in dem kalten schwarzen Kamin neben dem Bücherregal gebrannt hatten. Es gab eine durchgesessene Couch, mehrere aus dem Leim gehende Sessel und zwei verschieden großen Tische, alle am Boden festgeschraubt. Die Vorhänge an den kleinen Fenstern bedurften dringend einer Reinigung. In einer Ecke lag ein großer Medizinball, in einer anderen stand ein farblos gerittenes Schaukelpferd mit lückenhafter Mähne, als wären ihm die Haare büschelweise ausgerissen worden. Der Bildschirm des großen, altmodischen Röhrenfernsehers auf dem kleineren der beiden Tische war mit Schlieren und Fingerabdrücken übersät, und die gerahmten Stillleben an den Wänden wiesen mehr Kratzer als Farbe auf. Es roch nach Sauerkraut, Ammoniak und kalter Asche.
    Ella spürte ihre Hilflosigkeit wie ein Gewicht, das sie niederdrückte. Sie musterte die Ärzte, blass und nervös, mit geröteten Gesichtern und in die Kitteltaschen geschobenen Händen. Sie musterte auch die Schwestern und Pfleger, die offenbar versuchten, sich unsichtbar zu machen, und unbeteiligt vor sich hin starrten. Zuletzt musterte sie die Patienten, die nicht zu begreifen schienen, was um sie herum passierte. Ein paar wirkten verschlafen und müde, vor allem eine junge Frau mit einem verrutschten Haarnetz und ein alter Mann, der sich fortwährend mit dem Handballen über die linke Wange rieb, von unten nach oben, immer wieder.
    Unter dem großen Tisch lag ein junges Mädchen mit braunen Dreadlocks in einem gelben Schlafanzug, zusammengerollt wie ein Hund in seinem Korb. Bei ihm kauerte ein anderes

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