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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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paarmal. »Leg es auf den Boden, mach schon!« Seine Haare waren inzwischen feucht an den Spitzen, und der Handrücken glänzte vor Schweiß, so fest umklammerte er die Granate.
    Cassidy zuckte mit den Schultern und legte das Mobiltelefon vor sich auf den Boden. »Da läuft gerade was«, sagte er leise zu Ella, »irgendwo bringt jemand gerade Menschen um.«

5 9
    Draußen auf dem Gang schrillte wieder die Klingel, rief dringend nach einem Arzt, einer Schwester oder einem Pfleger, aber im Aufenthaltsraum bewegte sich niemand. Der kauernde Mann begann wieder zu wimmern, lauter jetzt. »Sei still!«, rief Oliver.
    »Wogegen kann ich nichts machen?«, fragte Annika ihn. »Oliver?«
    »Ich bin besser als Sie«, antwortete er, atemlos vor Stolz. »Ich kann Sie jederzeit schlagen. Ich kann jeden schlagen. Alle. Ich bin Ihnen immer einen Zug voraus. Es ist so leicht!« Er schüttelte den Kopf, konnte nicht fassen, wie leicht es war. »Ich musste nur den Schritt tun.«
    »Welchen Schritt?«, fragte Annika.
    Der Junge überlegte, schien ihre Frage nicht zu verstehen. Schließlich sagte er: »Ach so … Der Schritt über die Schwelle. Zur anderen Seite. Zu dem, was dahinter ist.«
    »Hinter was? Die andere Seite von was? Was meinst du?«
    »Mitleid.« Er zuckte mit den Schultern. »Hey, Dr. Jansen, wussten Sie, dass nur zwanzig Datenpunkte ausreichen, um einen Menschen in seinen Grundzügen zu berechnen? In dem, was er mag und was er nicht mag? Einen ganzen Menschen. Und ich hatte bald Hunderte solcher Punkte. Von denen, die mich interessierten, hatte ich Hunderte und mehr. Es dauert nicht mal einen Tag, und ich weiß über jeden im Netz so viel, wie ich über Sie weiß. Bloß dass ich bei Ihnen Wochen und Monate gebraucht habe, bis ich auf die Idee gekommen bin, was ich mit Ihnen machen kann. Wochen und Monate das Gefasel im Therapiezimmer meines Vaters, fasel, fasel, fasel …«
    »Was ist auf der anderen Seite?«, fragte Annika. »Auf der anderen Seite des Mitleids?«
    »Angst!« Eifrig nickte er. »Alle haben Angst, irgendwo, tief innendrin. Und ich wusste sofort, wovor jeder Angst hatte. Und ich wusste, wie man Angst nutzt, das habe ich bei meinen Eltern gelernt. Wie jeder bereit ist – echt jeder, verstehen Sie? – ein bisschen was Böses zu tun, um weniger Angst zu haben. Nur ein ganz kleines bisschen. Verdammt, mit Angst kann man Menschen hierhin schieben und dorthin schieben und man kann sie dressieren wie ein Tier. Richtige Menschen, die irgendwo leben, nicht nur Figuren in einem Spiel.«
    »Wovor haben die Menschen Angst?«, fragte Annika.
    »Alles eine Frage der Dosierung. Der richtigen Zahlen.«
    »Wovor haben sie Angst?«
    »Vor Wörtern. Den richtigen und den falschen. Was jemand sagt – zu ihnen oder über sie oder was sie selbst sagen müssen oder wollen und nicht können. Davor, was die Angst bewirken kann, wenn sie jemand anderem in die Hände fällt. Bestimmt hat mein Vater Ihnen das alles schon erklärt. Davon versteht er jede Menge, von Wörtern und Angst.«
    Der Junge betrachtete die Granate in seiner Hand, die vielleicht schon taub war, sodass er gar nicht mehr fühlte, wie viel Druck er ausüben musste oder wann ihn die Kraft verließ oder er einen Krampf bekam und sie vor Schmerz fallen ließ.
    »Stellen Sie sich mal vor«, sagte er und sah Annika direkt in die Augen, »stellen Sie sich vor, Sie gehen aus Ihrem Haus. Nachts. Allein. Sie gehen spazieren, und Sie gehen durch einen Wald, durch einen dunklen Wald, und Sie haben keine Lampe. Erst ist alles cool, obwohl es so dunkel ist, dass Sie eigentlich Angst haben müssten, und Sie sind schon ziemlich weit von Ihrer Wohnung weg. Aber dann sehen Sie auf einmal was am Rand Ihres Bildschirms, etwas, das da nicht hingehört, und es bewegt sich.«
    »Ja«, verkündete der Mann vor dem Fernseher und drehte dem Raum wieder den Rücken zu. »Ja, alles bewegt sich. Alles.«
    Oliver sagte: »Es kommt näher und macht unheimliche Geräusche und gibt Laute von sich, die Sie noch nie gehört haben. Die es eigent lich gar nicht gibt. Aber dieses Wesen ist keine Figur aus einer Fantasy-Geschichte, sondern ein riesiges Tier, ein Raubtier, das gerade darauf aus ist, auf Sie zuzustürzen und Sie in Stücke zu reißen, zu zerfetzen. Und dann zu fressen. Ist dann noch alles cool bei Ihrem Waldspaziergang? Haben Sie da Mitleid?«
    »Nein«, sagte Annika.
    »Sondern?«, fragte Oliver.
    »Ich habe Angst«, antwortete Annika.
    »Habe Angst, habe Angst«, sagte die Frau auf

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