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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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hinter ihnen tief Luft holte. »Der Junge«, sagte der Professor. »Hat der Junge etwas gesagt?«
    »N-nein. Ich h-habe nur gehört, w-wie die Agenten d-dem Arzt erklärt haben, er m-muss beobachtet werden, w-weil er g-gefährlich ist und was U-unüberlegtes tun kann.«
    Und da, als sie das hörte, erkannte Ella schlagartig – in einem sekundenkurzen Aufblitzen äußerster Hellsichtigkeit, als erlitte sie selbst plötzlich einen epileptischen Anfall –, welchen Plan die Geheimagenten gerade in die Tat umsetzten, und sie fragte sich, ob Oliver Gershenson wohl ahnte, dass er genauso sterben sollte wie Anni und alle, die sich jetzt auf dem Weg durch die trostlosen Krankenhauskorridore in die geschlossene Abteilung der Mills Clinic befanden.

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    Der Junge stand wie erstarrt in der Mitte des großen Raums, und die Handgranate in seiner rechten Faust sah aus wie eine kleine, noch unreife Ananas. Er trug schwarze Turnschuhe mit roten Blitzen an den Seiten, eine verwaschene Jeans mit lose herunterhängenden Fäden an den ausgefransten Beinen und einen leichten, langen Mantel wie ein Cowboy in einem Western. Der dunkelgraue Mantel war nicht zugeknöpft, und darunter konnte Ella ein T-Shirt mit dem Abbild der schlitzäugigen Anonymous-Maske auf der Brust sehen. In der einen Hand hielt er die kleine Ananas, die andere steckte in der Manteltasche.
    Er reagierte nur mit einer knappen Bewegung, einem kurzen Blick, als der Pfleger die Tür öffnete und Ella, Cassidy und der Professor über die Schwelle traten. Die Tür fiel zu, und der Junge sah wieder weg, als hätte er längst mit ihrem Eintreffen gerechnet.
    Er war so weit entfernt, dass Ella ihn wie mit einem Teleobjektiv heranholen musste – klein, größer, noch größer, groß, bis nichts mehr blieb als das Gesicht des Jungen in dem dämmerigen Licht des Aufenthaltsraums. Weich fließendes Haar, das blond und dünn über Ohren und Nacken fiel. Braune Augen, weit aufgerissen, verstört: Nagelköpfe, an denen das ganze Gesicht zu hängen schien. Ein zusammengepresster Mund wie eine blass vernarbte chirurgische Wunde unter einer kleinen, geraden Nase. Straffe, durchscheinende Haut, blass aus Mangel an Tageslicht.
    Der schmale Körper verriet Angst – die angespannte Haltung des Halses, das Zittern der Beine. Angst oder Zorn oder beides. Wie ein in die Enge getriebenes Tier vor dem Fluchtsprung aus der Gefahrenzone, dachte Ella. Aber er sprang nicht, und er war auch nicht die Beute, das Opfer – er war die Gefahr.
    Das Opfer war die Frau, die ihm gegenüber neben einem Schrank mit Spielen und Büchern stand und die Augen so wenig von ihm ließ wie er von ihr. Die Opfer waren sieben verstörte Männer und Frauen in schäbigen Schlafanzügen, mit hängenden Hosen und schief zugeknöpften Jacken oder offenen, verfilzten Morgenmänteln. Ihre Gesichter waren wächsern, die Augen leer, nach innen gerichtet. Sie schienen zu lauschen, ohne etwas zu hören. Einige zitterten vor Kälte oder Angst.
    Die Opfer waren zwei Ärzte, ein junger Pfleger und drei Nachtschwestern in weißen oder grünen Kitteln.
    Und die Opfer waren zwei schwitzende Männer in Anzügen und Mänteln, die überraschter als alle anderen darüber zu sein schienen, dass sie auch dazugehörten, denn bisher hatten sie die Fäden in Händen gehalten. Das sind sie, dachte Ella, die Mörder von Tori Farrow. Sie entdeckte den Mann, dem sie ins Gesicht gebissen hatte.
    Aber die Aufmerksamkeit des Jungen mit der Handgranate konzentrierte sich ganz auf die Frau neben dem Bücherregal. Die Frau hielt den Kopf schräg geneigt, und sie hatte sich auch nur kurz umgedreht, kaum eine Sekunde, als die Tür geöffnet worden war. Sie trug einen gelben, kaftanähnlichen Kittel ohne Ärmel und darunter eine weitgeschnittene beige Leinenhose. Sie war verändert. Ihr Haar war kurzgeschnitten. Sie wirkte kleiner, schien gealtert, aber sie war es.
    »Anni«, sagte Ella, fast flüsternd. »Anni, ich bin’s – Ella …«
    Die Frau antwortete nicht. Sie drehte sich nur langsam um und sah Ella an. Ihr Gesicht war angespannt, die Haut straff unter einem dün nen Netz unzähliger Falten. Die leicht offen stehenden Lippen zeigten Schorfspuren, als wäre sie gestürzt. Die grauen Augen waren hell und blickten warnend, warnend oder flehend, aber unter dem gleichzeitig erschöpft und erregt wirkenden Gesicht entdeckte Ella das andere, starke, jüngere, das sie kannte. Sie verspürte Erleichterung, ein Flirren in der Brust, schimmernd wie

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