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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Mädchen, vielleicht genauso alt, siebzehn oder achtzehn. Es gab noch einen Mann mit ungekämmtem rotblondem Haar, der mit dem Rücken zum Raum vor dem Fernsehapparat stand, als warte er darauf, dass seine Sendung begann. Auf der Couch saß eine Frau in einem mit grünen Blümchen bedruckten Morgenmantel aus rosa Frottee. Sie saß sehr gerade, sehr aufmerksam, und zupfte in kurzen Intervallen mit den Kuppen von Daumen und Ringfinger an ihrer Unterlippe.
    In diesem Moment sagte einer der beiden Ärzte: »Bestimmt wäre es sinnvoll, wenn wir die Patienten wieder ins Bett bringen, bevor wir …«
    »Wir sind nicht müde«, rief die Frau auf der Couch, »sind nicht müde, nicht müde.«
    »Niemand spricht«, sagte der Junge mit seiner kieksenden Stimme und schwenkte erregt die Handgranate. »Ich will, dass niemand spricht, nur Dr. Jansen. Niemand! Klar?«
    »Niemand spricht, niemand spricht«, wiederholte die sitzende Frau in dem rosa Morgenmantel. Wenn sie den Kopf wandte, blinkten die schlecht geputzten Gläser ihrer schildpattgerahmten Brille im anämischen Licht der beiden Leuchtstoffröhren an der Decke.
    Der große Mann, der vor dem Fernseher stand, drehte sich um und sagte: »Ich glaube, Sie haben unrecht. Alles spricht. Immer, die ganze Zeit.«
    »Ruhe, Ruhe!«, verlangte Oliver. In seinen dunklen Augen lag eine eigenartige Dringlichkeit, während sein weiches Gesicht, die Stirn und die Wangen wie Perlmutt schimmerten. »Es ist wichtig, dass niemand spricht.«
    »Niemand spricht, niemand spricht!«, sagte die Frau in dem rosa Morgenmantel. Sie fuhr sich mit den Fingern durch das ergrauende Haar und strich es zurück, als wollte sie ihr Profil ins rechte Licht rücken. Sie sah den Jungen an, dann Annika, und danach nahm sie ihre Schildpattbrille ab, wie um keinen von beiden noch länger sehen zu müssen.
    »Alles spricht, die ganze Zeit«, sagte der Mann vor dem Fernseher, schüttelte den Kopf und lächelte traurig, weil niemand außer ihm zu hören schien, dass alles sprach, die ganze Zeit.
    Nur einer der Patienten schien ebenso viel Angst zu haben wie die Agenten, Ärzte und Schwestern. Er war jung und kauerte mit angezogenen Beinen an der Wand neben der Tür auf dem Boden. Er hatte die Arme um die Knie geschlungen und den kahlrasierten Schädel wie ein schlafender Vogel auf seine rechte Schulter gelegt. Er trug nichts als Shorts, kombiniert mit einem olivgrünen Unterhemd, keine Schuhe, keine Strümpfe. Leise wimmernd saß er da, mit gefletschten Zähnen und zusammengekniffenen Augen. Das Wimmern schwoll an und ab, als drehte sich ein Kreisel in seinem Kopf, der diesen Laut von sich gab und immer weiter von sich geben würde, bis er umkippte und liegen blieb.
    »Hey, Jungchen«, sagte Cassidy zu Oliver. »Ist das Ding in deiner Hand überhaupt echt? Weißt du, ob es funktioniert? Sieht so aus, als hättest du vergessen, den Splint zu ziehen.«
    »Das ist eine jugoslawische M75«, sagte der Junge und warf einen Blick darauf, wie um sich selbst zu überzeugen, »und der Splint ist gezogen.«
    »Ich meine ja nur, vielleicht weißt du gar nicht, wie lange …«
    »Ssscht« , machte Oliver, schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht und wedelte mit der M75 hin und her. » Ssscht! Nur Dr. Jansen soll reden.«
    »Was willst du denn von mir hören?«, fragte Annika.
    »Sagen Sie mir, warum Sie das getan haben.«
    »Warum ich was getan habe?«
    »Warum haben Sie meine Arbeit sabotiert?«
    »Weil es nicht deine Arbeit war. Es war meine, und du warst es, der sie sabotiert hat. Und danach war es keine Arbeit mehr, sondern das Böse, das du daraus gemacht hast.«
    »Es war nicht böse«, sagte der Junge. »Dazu war es viel zu leicht.«
    »Das Böse ist immer leicht«, widersprach Annika. »Es ist das Gute, das schwerfällt.«
    Oliver schien einen Moment nachzudenken, reglos. »Mir ist immer alles leicht gefallen«, sagte er. »Alles. Aber am leichtesten …« Er un terbrach sich und sagte dann: »Sie sollen reden. So wie Sie bei mei nem Vater in der Praxis geredet haben. Über sich. Über die Menschen.« Er schwieg wieder, bevor er nachschob: »Ich habe Sie nie wirklich verstanden.«
    Annika bewegte sich langsam von Ella weg, auf den Jungen zu, langsam, wie um ein scheues Tier nicht zu erschrecken. »Soll ich von mir reden oder von uns beiden«, fragte sie, »davon, wie ähnlich wir uns sind?«
    »Wir sind uns ähnlich?«, fragte Oliver verblüfft.
    Die Blicke der Agenten flogen zwischen ihm und Annika hin und her, und

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