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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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der Couch und zupfte wieder an ihrer Unterlippe.
    Jetzt hob das Mädchen unter dem Tisch, das zusammengerollt dalag, den Kopf mit den Dreadlocks und sagte verächtlich, ohne die Augen zu öffnen: »Ihr seid alle so was von feige, ihr seid Feiglinge durch und durch. Schmeiß schon das Scheißding, du Freak!« Das Wimmern des kauernden Mannes ging in ein Winseln über, und das Mädchen wandte den Kopf in seine Richtung. »Hör auf zu flennen, du Wichser, oder ich trete dir in die Eier!«
    »Wir haben also alle Angst«, sagte Annika lakonisch.
    »Ja, genau! Aber die Angst macht auch was mit Ihnen.« Oliver nickte mehrmals eifrig. »Weil Sie Angst haben, dass Sie vielleicht sterben müssen – weil Sie wissen, dass Sie vielleicht gleich sterben müssen, fühlen Sie sich plötzlich superlebendig. Viel lebendiger als sonst. Als hätte jemand Sie an ein Stromnetz angeschlossen. Starkstrom. Das Biest da im Dunkeln starrt Sie an, und deswegen sehen Sie sich auf einmal selbst wie mit seinen Augen. Ganz neu, von außen, als stünden Sie auf einem Podest oder in einer Arena im Scheinwerferlicht. Sie entdecken sich wieder, wie zum ersten Mal. Sie leuchten. Sie wissen wieder, wer Sie sind. Das hat das Auftauchen des grauenhaften Tiers bewirkt. Dass Sie alles plötzlich ganz scharf sehen. Und deswegen sind Sie bereit zu kämpfen, zu töten, zu sterben. Weil aus der Angst diese ganze Kraft gekommen ist. Und dann bin ich da und zeige Ihnen, was Sie tun müssen, um so klar zu bleiben und keine Angst mehr haben zu müssen. Nie mehr. Für immer.«
    Annika fragte: »Von wem hast du gelernt?«
    »Von meinen Eltern, von Mama, von Papa«, sprudelte der Junge hervor. »Die hatten solche Angst. Ich war noch klein, aber ich habe ihre Angst gespürt. Ich habe gesehen, wie sie aus den Netz zu ihnen kam, peng, wie sie in sie hineingefahren ist, peng, peng! Sie waren nicht wie ich, es gab zu viel Distanz. Wenn ich den Computer einschalte, spüre ich meinen Körper nicht mehr, es gibt keinen Unterschied zwischen mir und dem Rechner, sogar unsere Temperatur ist dieselbe. Ich habe keine Haut, wenn ich online gehe, kein Fleisch, keine Knochen, nichts, was berührt. Ich spüre keine Tasten, sehe durch den Bildschirm. Alles um mich herum verschwindet, es flimmert erst ein bisschen, und dann ist es weg, das kleine dunkle Zimmer, die ganze irreale Umgebung, nur noch die Wirklichkeit, und ich kann meine Arbeit machen. Hey, haben Sie die Videos auf YouTube gesehen? Die Explosion in der U-Bahn? Und wie dieser Sanitäter den Polizisten angefallen und totgebissen hat? War das nicht megageil?«
    »Meine Schwester«, sagte Gershenson ungläubig. »Rosalind … Was hast du getan? Wer bist du? «
    Der kauernde Mann hörte auf zu winseln und sagte klar und laut: »Er ist der Teufel.« Mit ausgestrecktem Arm deutete er auf Oliver. »Das ist der Teufel.« Eine Sekunde lang wirkte der Junge verwirrt, fast starr vor Schreck. Nur sein gerötetes Gesicht bewegte sich, es schien sich zu verzerren, als wäre es entgegengesetzten, heftig auf ihn einwirkenden physikalischen Kräften ausgesetzt.
    Alle starrten ihn an, Annika, Cassidy, die Agenten. Auch Ella beob achtete den Jungen, aber dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Annika zu und dachte: Sie hat recht, sie hat es die ganze Zeit geahnt, sie ist nicht verrückt.
    Oliver stabilisierte sich wieder, wie ein Fernsehbild nach einer Störung. »Ich konnte schon immer Gedanken auffangen, wenn sie auf einer bestimmten Frequenz herumschwirren, Gedanken und Impulse. Wie Funkwellen. Ich kann Licht sehen, auch wenn alle anderen sagen, es ist dunkel. Ich kann die Energie der Dunkelheit spüren. Wussten Sie, dass auch die Dunkelheit Licht ist, jenseits der für menschliche Seelen wahrnehmbaren Frequenzen?« Eine Art Lächeln flackerte über sein Gesicht. »Man darf die Menschen nicht denken lassen, was sie wollen. Die ganzen verschwendeten Zahlen.«
    Das ist kein siebzehnjähriger Junge, der da spricht, dachte Ella, kein Wolfskind, kein Wunderkind. Er sieht nur so aus. Und er war auch nie ein Kind von neun Jahren. Er war schon immer ein Mörder. Ein Alien.
    Der Agent, der ihre Bissspuren im Gesicht trug, runzelte die Stirn. Er tauschte wieder einen Blick mit seinem Partner, deutete mit einem kaum sichtbaren Nicken auf die Pistolen zu ihren Füßen, was der Partner mit einem genauso knapp angedeuteten Kopfschütteln ablehnte.
    »Was du eben gesagt hast, verstehe ich nicht«, sagte Annika. »Ich verstehe nicht, was du meinst, wenn

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