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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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du sagst, dass du uns zeigst, wie wir nie mehr Angst haben müssen und für immer diesen neuen Blick auf uns selbst haben können. Das verstehe ich einfach nicht.«
    »Ist doch ganz einfach – kinderleicht!« Er lachte auf, heiser, ungeübt. »Du musst auch über die Schwelle treten und selbst Angst verbreiten. Von einer Form in die andere wechseln. Dich selbst und alles andere mit den Augen von diesem schrecklichen Tier betrachten, bis du dich irgendwann gar nicht mehr siehst. Dann wird alles leichter, weil du diesen Ärger nicht mehr hast jeden Tag, diese ganzen Entscheidungen. Niemand muss mehr leiden. Niemand fühlt mehr etwas. Niemand hat mehr eine Seele.«
    »Und dann?«, fragte Annika. »Sollen wir alle zu Wölfen werden, nachts im Wald?«
    »Nachts im Wald, nachts im Wald«, murmelte die Frau in dem rosa Morgenmantel.
    »Warum nicht?«, fragte Oliver mitgerissen von sich selbst und nahm die Granate scheinbar gedankenlos wieder in die andere Hand, ohne den Sicherungshebel loszulassen. »Menschen sind so unvollkommen. Langsam. Unbeholfen. Sie können nicht fliegen. Sie können nicht schnell laufen. Sie frieren, weil sie kein Fell haben, nur dünne Haut, die leicht reißt. Im Wasser gehen sie unter. Sie können von allem nur ein bisschen und sind überhaupt nicht widerstandsfähig. Ihr Gebiss taugt nichts, ihre Muskeln sind schwach, und wenn sie gehen, kann der Wind sie umblasen. Und wenn sie fallen, brechen ihre dünnen Knochen. Sie haben keine Klauen, keine Hufe, keine Hörner oder Schwänze. Sie sind einfach zu schwach, besonders ihr Herz, und dass sie denken können und fühlen, das nützt ihnen nichts. Sie sind überhaupt nicht cool. Sogar das schäbigste Insekt wird länger auf der Erde sein als die Menschen.«
    »Hättest du gern Klauen, Hufe und Hörner?«, fragte Annika, plötzlich ohne alle Gelassenheit, fast wütend.
    Oliver antwortete nicht, als hätte man ihm eine Fangfrage gestellt. Unter seinem Gesicht schien sich die Knochenstruktur zu verändern, die Formen, etwas bewegte sich und erstarrte wieder, alles nur in Sekundenbruchteilen.
    »Ich habe lieber Angst«, fuhr Annika fort.
    »Ach ja?« Die Kieksstimme des Jungen klang auf einmal mechanisch, wie die digital zusammengesetzte Ansage auf einer Mailbox. »Gut, ich habe ein Status-Update von Angst, nur für Sie.« Herrisch sah er zu dem wimmernden Mann hinüber, der sich wieder zusammengekauert hatte. »Du da, komm mal her!« Der Mann reagierte nicht. Er hielt mit dem Wimmern inne, wie ein Kind, das kurz aufhört zu greinen, weil jemand seinen Namen sagt. »Komm her!«, rief Oliver, und da hob der Mann den Kopf von seinen Knien. »Na los, mach schon!«
    »Herrgott, tun Sie doch etwas, Cassidy«, flüsterte Ella, »irgendwann wird er nicht mehr genug Kraft haben und die Granate fallen lassen! Das ist doch Wahnsinn!«
    »Wir sind ja auch in einer geschlossenen Abteilung«, sagte Cassidy leise.
    Zögernd stand der kahlrasierte junge Mann auf, seine Shorts waren durchgeschwitzt. Verlegen blickte er sich um. Rieb sein Kinn an der hochgezogenen linken Schulter. Fuhr sich mit der flachen Hand über den Kopf. Der rechte Träger des olivfarbenen Unterhemds verrutschte, und eine dunkle Brustwarze lugte über dem Ausschnitt hervor.
    »Komm her«, sagte Oliver.
    Der junge Mann ging mit kurzen, schlurfenden Schritten durch den Raum und sah dabei immer wieder zu den Ärzten und Pflegern, als wartete er darauf, dass sie ihm Einhalt geboten.
    »Oliver, was hast du vor?«, fragte Annika besorgt.
    »Ich schaffe einen neuen Planeten. Planet Angst.«
    Als der junge Mann Oliver erreicht hatte, blieb er vor ihm stehen, mit schräg geneigtem Kopf und halb geöffnetem Mund, aus dem etwas Speichel lief. »Ich bin Michael«, sagte er.
    »Ich habe eine Aufgabe für dich, Michael.« Ehe irgendjemand reagieren konnte, ergriff Oliver die rechte Hand des jungen Mannes, legte ihm blitzschnell die Granate hinein und drückte sie um den Sicherungsbügel zusammen. »Das musst du jetzt ganz fest halten, Michael.«
    »Oliver – nein! «, schrie Gershenson, und auch die beiden Agenten schrien Olivers Namen, und daraufhin schrien die Patienten etwas, alle schrien, und Michael presste beide Hände gegen den Kopf, mit geschlossenen Augen, die Granate in der rechten Faust.
    Oliver schrie nicht. Ganz ruhig sagte er: »Festhalten, Mikey, halt sie schön fest!« Er packte Michaels Faust, um ihm zu zeigen, wie, und kurz sah es so aus, als würde die Granate Michael aus der Hand rutschen,

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