Nukleus
beobachtet worden bin. Sie arbeiten für den BND und könnten versuchen, Sascha zu schützen. Ich muss jetzt Schluss machen. Meine Freundin Annika ist schwer verletzt, sehr schwer.«
Sie unterbrach die Verbindung und sah, dass sich jetzt auch der zweite Arzt und noch eine Schwester um Annika kümmerten. Cassidy war aufgestanden, stand aber nur mit weit offenen Augen in einem blutverkrusteten Gesicht da, ohne irgendwohin zu gehen wie ein blutender Stier in der Arena. Hastig wählte Ella Julians Nummer, und während sie wartete, setzte sie sich erschöpft auf den Boden. Das flackernde Batteriesymbol wurde jetzt noch durch ein akustisches Si gnal unterstützt. Nur noch ein paar Minuten, bitte! Nur noch eine oder zwei …
»Ja, Auster hier.«
»Julian! Ich bin’s, Ella!« Einen Moment wurde ihr schwindlig. »Ich brauche deine Hilfe, es geht um Annika. Sie ist von einem Granatsplitter …«
»Ella, ich habe schon versucht, dich zu erreichen. Ich bin vor zwei Stunden in …«
»Julian, bitte, unterbrich mich nicht! Die Zeit drängt, der Akku von meinen Handy ist gleich …«
»Wir brauchen nicht zu telefonieren. Ich kann in …«
»Herrgott, jetzt sei doch mal still!«, schrie Ella. »Annika ist schwer verletzt. Im Moment ist sie stabil, aber sie stirbt, wenn sie nicht sofort operiert wird. Alle Symptome sprechen dafür, dass ihr ein Granatsplitter ins Gehirn gedrungen ist. Ich muss wissen, ob du hier in London einen guten Neurochirurgen kennst, der …«
»Ja«, sagte Julian knapp. »Den besten.«
»Wen? Wie kann ich ihn erreichen?«
»Du sprichst gerade mit ihm. Ich bin vor zwei Stunden in Heathrow gelandet und versuche seitdem, dich zu erreichen, aber unter deiner Nummer meldet sich immer nur ein Mann, hört sich nach einem Araber an.«
Es verschlug Ella die Sprache, und als sie nichts sagte, redete er we iter. »Du hast zwar gesagt, ich soll nicht kommen, aber der Gedanke, dass du da allein und unter Lebensgefahr … Ich habe jedenfalls gerade in einem Hotel am Hyde Park eingecheckt und kann sofort wieder los. Wo bist du?«
»Wir sind in der Mills Clinic in Wandsworth. Das ist …«
»In einer Klinik? Bist du verletzt?«
»Nein, mir ist nichts passiert … du meine Güte, ich erkläre dir alles später … die Klinik ist auf der anderen Seite der …«
»Der Taxifahrer weiß schon, wo das ist. Ich bin so schnell wie möglich da. In der Zwischenzeit könntest du ein CT machen lassen, falls die da so eine neuzeitliche Maschine haben, mit der man in die Köpfe der Menschen hineinschauen kann.«
»Julian …«
»Ja?«
»Beeil dich.«
Der Akku war leer, die Leitung tot. Ella fiel wieder ein, was sie in dem Imbisslokal gedacht hatte: Wenn du mich wirklich liebst, kommst du trotzdem … Beinahe hätte es ein Lächeln bis auf ihre Lippen geschafft, scheiterte aber an einer Barriere aus Schmerzen. Sie stemmte sich hoch, um zurück zu Annika zu gehen. Nach ein paar Schritten hörte sie ein Stöhnen von dort, wo Oliver lag.
Der Junge hatte einen Arm verloren. In seinem Brustkorb klaffte ein Loch so groß wie ein Fußball. Etwa einen Meter von dem klaffenden Loch, durch das man die gebrochenen Rippen und einen zerfetzten Lungenflügel sehen konnte, lag die abgetrennte Hand, aber sie sah nicht mehr aus wie eine Hand. Sie sah jetzt eher aus wie die Klaue eines verbrannten Raubvogels, schwarze Krallen, in denen wie eine gerissene Beute sein Smartphone ruhte. Es war halb geschmolzen, das Display zersplittert und unkenntlich. Was immer Anni darauf gesehen hatte, war nicht mehr da.
Oliver sah mit dem entrückten Blick eines Märtyrers zu Ella auf. Sein Gesicht, eingerahmt von verkohlten Haaren, erinnerte an eine gesprungene, notdürftig wieder zusammengeleimte Vase – ein Gefäß, aus dem langsam das Leben heraussickerte. Es zeigte keinen Schmerz und keine Angst, und es schien auch gar nicht mehr zum Rest seines Körpers zu gehören. Dann durchlief ein Schauer die restlichen Gliedmaßen. Kurz flackerten die Augen, wurden weit und wieder so schwarz, als hätte ihm ein kalter Wind die Schreie der Toten zugetragen, die seinetwegen gestorben waren.
»Ist schon … ist schon Morgen?«, fragte er flüsternd.
»Nein«, sagte Ella. Dann fragte sie: »Hast du Schmerzen?«
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es kam nur noch ein weiteres Stöhnen. Dann verflog der Rest Leben, der noch in ihm gewesen war.
Ella starrte auf den reglosen Körper des Jungen. Plötzlich musste sie an das Gedicht denken, das DI
Weitere Kostenlose Bücher