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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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geworden bist …«
    Das meint sie nicht wirklich, dachte Ella, sie sagt das nur, um den Jungen dazu zu bringen, dass er ins Wanken gerät, zu zweifeln beginnt.
    Oliver schluckte, ein trockenes Schlucken, das fast wie ein Schluchzen klang, und er starrte das Mobiltelefon in seiner Hand an.
    »Manchmal«, sagte er, »manchmal kann ich nicht zwischen mir und anderen Sachen unterscheiden, wenn ich in einen Raum komme, in dem ich noch nie war. Meinen Sie das? Oder Menschen – ich weiß nicht, ob sie echt sind und was ich mit ihnen zu tun habe, wenn sie nicht reagieren … wenn sie einfach nicht reagieren, auch wenn ich Enter drücke. Es kommt mir vor, als wären sie mir völlig fremd, auch wenn ich sie kenne.« Er blinzelte und für eine oder zwei Sekunden schloss er die Augen. »Aber das mit der Dunkelheit, das stimmt … Papa … mein richtiger Vater … und Mama auch … die waren immer im Licht, sie waren die ganze Zeit im Licht, und ich konnte sie beobachten, denn bei mir war es dunkel, und sie haben mich gar nicht bemerkt. Als Papa starb … als er beerdigt wurde … konnte ich hören, wie die Erde auf seinen Sarg fiel, und ich wusste nicht, ob er in dem Sarg lag oder ich. Mir war ganz kalt … ich war ganz kalt, und ich dachte, vielleicht liege ich in dem Sarg, im Dunkeln, und die Erde fällt auf mich und erstickt mich. Ich glaube, das kam daher, dass es meine Schuld war. Dass er darin lag, in dem Sarg, war meine Schuld. Er sollte auch mal sehen … mal sehen, wie das ist … wenn man immer allein im Dunkeln ist.«
    »Das warst nicht du«, sagte Annika. »Das war der andere. Ich weiß, wie er arbeitet. Ich habe ihn auch gesehen.« Sie sprach schnell und nicht mehr so selbstbewusst wie vorher, und sie blickte auf den Boden, schien plötzlich das Gefühl zu haben, dass er sie nicht mehr trug.
    »Aber ich habe sie doch getötet …« Oliver schien verwirrt. Hob die Arme, nur ein paar Zentimeter. »Warum sind nicht alle Menschen einfach glücklich? Das hat Gott gemacht, nicht? Damit sie ihn brauchen und zu ihm beten!« Auf einmal wandte er blitzschnell den Kopf und warf Ella einen Blick zu, der sie wie ein Hieb mit glühenden Krallen streifte. »Die Menschen in Berlin werden morgen früh nicht mehr an ihn glauben, nicht, Dr. Bach? Sie werden nicht mehr beten.«
    »Doch, das werden sie«, sagte Ella. »Sie haben nach dem Anschlag in der U-Bahn gebetet, und die Eltern der getöteten Babys hier in London haben auch gebetet.«
    Plötzlich löste Michael die Fäuste von seiner Brust und sagte wieder mit der überraschend klaren Stimme von vorhin: »Ich will auch beten.« Dabei veränderte sich sein Blick. Es war nur ein Schatten in der Pupille, aber Annika bemerkte ihn, und Ella bemerkte ihn auch. Schwerfällig und langsam wie jemand, der sich auf dem Meeresgrund bewegt, streckte er die Hand mit der Granate aus, als wollte er sie fallen lassen. Annika streckte ebenfalls ihre Hand aus, war aber zu weit von ihm entfernt, um die Granate auffangen zu können, falls er sie wirklich fallen ließ.
    »Nicht, Michael«, rief sie. »Halt sie fest! Gib sie mir, bitte!«
    »Ach, du Scheiße!«, flüsterte Cassidy neben Ella. »Fuck, fuck, fuck!« Er schob sich vor Ella. »Wenn er den Bügel loslässt, dauert es noch ungefähr siebzehn Sekunden, bevor sie explodiert.«
    Alle im Raum standen reglos, mit entsetzten Mienen, erstarrt im Moment des Begreifens. Wie in Zeitlupe stemmte Gershenson sich aus dem Sessel hoch und ächzte: »Oliver!«, aber der Junge schien nicht zu wissen, wie er sich verhalten sollte. Sein Gesicht veränderte sich fortwährend, während Gefühle darüber hinweghuschten wie Schatten schnell treibender Wolken: Angst, Stolz, Schock, Triumph, Panik, Panik, Panik, Schmerz. Sein Blick fiel auf das Smartphone in seiner Hand, auf das Display, und da endlich schrie er: »Michael, lass sie fallen! Lass sie fallen!«
    Michael öffnete beide Fäuste, und die Granate fiel. Sie fiel, eine Sekunde, zwei, drei, sie fiel und fiel, vier, fünf, sechs, und dann war Annika da und fing sie mit beiden Händen. Sie starrte sie an, ohne zu wissen, was sie als Nächstes tun sollte … sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn …
    »Den Bügel!«, schrie einer der beiden Agenten. »Packen Sie den Sicherungsbügel und drücken Sie ihn!«
    Annika gehorchte. Sie presste den Bügel gegen die Granate und hielt sie fest, und Ella hörte das Aufatmen, das durch den Raum ging, und einen Herzschlag lang war sie ebenso erleichtert, bis sie

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