Nukleus
Cassidy an ihrem ersten Abend zitiert hatte. Sie dachte an die letzte Zeile: Haben Sie den Toten geküsst?
Und sie dachte: Warum haben Sie den Toten nicht geküsst, als er noch am Leben war?
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Sascha hielt das Handy auf Armeslänge von sich weg und filmte sich, wie er den Lüftungsschacht kontrollierte. Im Clip sah man einen Mann in einem blauen Kittel, der einen letzten Blick auf die Membrane oben in der Wand warf und dann, leicht geblendet, aber trotzdem mit weit offenen Augen, in die Kamera blickte. Leise, ohne Aufregung, sprach er in das Handymikro: »Nichts verändert. Sie haben es noch nicht bemerkt. Mein letzter Kontrollgang ist erst ein paar Stunden her. Wenn ihr sehen wollt, wie ich die Behälter angebracht habe, dann folgt dem Link, den ich euch jetzt schicke.«
Ella klickte den Link an. Nach ein paar Sekunden fand sie sich auf demselben Gang in der Virchow-Kinderklinik wieder, nur ein paar Stunden früher, wie die Zeitanzeige oben rechts im Bild verriet. Man sah den nächtlichen Korridor, grünstichig, schlecht beleuchtet, und an dem leichten Schaukeln des Bildes konnte man erkennen, dass es die Perspektive von jemandem war, der gerade diesen Korridor entlangging. Dann blieb er stehen, stellte das Handy auf einem Fensterbrett ab und trat vor die Kamera. Jetzt sah Ella, dass es Sascha war, im Overall eines Wartungstechnikers, mit einer Aluminiumleiter in der Hand und einem Rucksack auf dem Rücken. Er stellte die Aluminiumleiter an die Wand. Er kletterte die Leiter hinauf, entfernte die Schrauben von dem Gitter oben in der Wand und nahm es ab. Dahinter waren undeutlich mehrere Rohre und Kabel zu erkennen.
Sascha kletterte wieder herunter und öffnete offenbar den Rucksack, was die Kamera aber nicht erfasste, weil der Bildausschnitt vor allem die Leiter und das Loch in der Wand zeigte. Er entnahm dem Rucksack eine Zange, einen kleineren Schraubenzieher und zwei kleine Metallbehälter, mit denen er wieder die Leiter hochstieg. Oben unterbrach er rasch und geschickt einige der Leitungen und Rohre und schob die beiden schlanken Metallbehälter, kaum größer als Parfumflakons, in das Loch. Mit dünnen Schläuchen schloss er die Behälter an die Rohrleitungen an, bevor er mit Klebeband noch etwas an den Behältern befestigte. Es sah aus wie ein großer Klumpen Knetgummi mit einer kleinen Antenne darin. Zu guter Letzt klemmte er ein kleines schwarzes Kästchen mit einem Glasobjektiv neben die Installation, danach verschloss er alles wieder: Leitungen, Rohre, das Loch in der Wand, das Gitter.
Unten baute er sich vor der Leiter auf und erklärte: »Ich habe gerade den letzten von vier Behältern mit Senfgas und sechs mit Mykotoxinen angebracht. Die Bakterien habe ich selbst in meinem Labor zu Hause gezüchtet, nach einer Anleitung im Forum Global Jihad. Ein Tröpfchen davon in der Wasserversorgung der Station oder zerstäubt in der Klimaanlage reicht aus, damit alle sterben. Wenn ihr in meine Wohnung geht, werdet ihr genug Petone, Phosphorchlorid, Salpetersäure und Schwefel finden, um eine ganze Stadt zu vergiften. Aber wenn man schon mit den Kindern anfängt, braucht man die Städte nicht mehr.«
Als er wegging – das Handy im Rucksack verstaut, die Leiter unterm Arm –, wechselte die Kameraperspektive, und man sah ihn von oben, durch das Gitter des Leitungsschachts, kleiner werden und im grobkörnigen, grünstichigen Halbdunkel verschwinden.
Ella saß auf dem Korridor vor der Notaufnahme, in der ihre Verletzungen versorgt worden waren, nur ein paar Kratzer und eine Prellung. Sie hielt ein Smartphone in der Hand, das sie sich von einem der Ärzte geliehen hatte. Bis auf ein leichtes Schmerzmittel hatte sie nichts eingenommen, denn sie wollte bei klarem Bewusstsein bleiben, solange sie nicht wusste, was mit Annika weiter geschah. Sie hatte mitgeholfen, die anderen Verletzten zu behandeln, und plötzlich war ihr der Gedanke gekommen, ihre LifeBook-Seite aufzusuchen. Vielleicht konnte sie mit Sascha in Kontakt treten, mit ihm reden.
Aber sie hatte nur diesen einen Link gefunden, der die Verbindung zu diesem Livestream darstellte. Keiner ihrer anderen neuen Freunde und Kontakte hatte sich mehr gemeldet, auch die Academy of Solace nicht, und so würde es nun bleiben.
»Ihr könnt das ruhig mit Freunden teilen«, sagte Sascha gerade. »Ich habe mich abgesichert, und morgen früh ist sowieso alles vorbei.« Sein Gesicht wurde immer wieder unscharf, weil er das Handy nicht ruhig hielt. »Falls ihr versucht,
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