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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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jung, sorglos, sonnengebräunt, die eine mit langen braunen Haaren, die andere mit kurzen, und Anni mit dieser Milchstraße von Sommersprossen rings um die tiefseeblauen Augen. Sie hatten über alles geredet, alles geteilt, nur die Männer nicht.
    Dann hatte Ella sich in Max verliebt, dann hatte die Liebe aufgehört, dann war Anni zum ersten Mal spurlos verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Ella erinnerte sich an die letzten Telefonate, die ausweichenden Antworten, die vagen Versprechen, sich zu melden. Dann war das Schweigen zum Dauerzustand geworden. Anrufe landeten in Mailboxen, ohne dass jemand zurückrief. Briefe blieben unbeantwortet. Dann war Max ermordet worden, und Ella hatte noch einen letzten Versuch gemacht, ihre ehemals beste Freundin vom Tod ihres Bruders zu informieren.
    Dann, endlich, das Wiedersehen im vergangenen Jahr: Annika war nicht mehr sonnengebräunt gewesen, sondern blass und so dünn, dass die Kleidung an ihr herabhing wie von den Schultern einer hölzernen Schneiderpuppe. Sie war noch immer schön, nur anders, unter lauter feinen Falten auf der durchscheinenden Haut wie in zerknittertes Seidenpapier geschlagen. Alles an ihr war schärfer und kantiger, und ihre Lippen, scharlachrot geschminkt, hatten etwas von einer kühlen, horizontal brennenden Flamme gehabt. Aber die klaren meerblauen Augen konnten noch immer bis auf den Grund der Seele schauen.
    »Ich bin krank«, hatte sie gesagt. »Deswegen habe ich mich versteckt. Ich wollte nicht, dass du es erfährst.«
    »Warum nicht? Weil richtige Freundinnen alles voreinander verschweigen?«
    »Bist du neuerdings so schwer von Kapee?«, hatte Anni gefragt. »Weil ich mich geschämt habe. Deswegen habe ich so lange nichts von mir hören lassen. Ich wollte, dass du mich so in Erinnerung behältst, wie ich war, nicht mich so erlebst, wie ich geworden bin. Zu was er mich gemacht hat.«
    »Er? Wer?«
    »Ein Mann, wer sonst.«
    »Was hat er mit dir gemacht?«
    »Mich die Treppe runtergeworfen. Mich an den Haaren durch die Küche geschleift. Meinen Kopf gegen die Wand gehämmert. Jeden Abend. Die reine Poesie! Bis er mich nicht mal mehr irgendwo gegenschleudern oder runterwerfen musste, damit ich hingefallen bin.«
    Ella hatte nichts gesagt, weil sie auf einmal begriffen hatte und weil es da nichts mehr zu sagen gab.
    »Genau«, hatte Annika bestätigt. »Fallsucht. Symptomatische Epilepsie als Folge eines Schädelhirntraumas. Morbus Sacer. Die Heilige Krankheit. Kommt schon in der Bibel vor, im Neuen Testament – Jesus heilt einen Fallsüchtigen. Julius Cäsar. Napoleon. Dostojewskis Idiot . Mein Hund Ronin. Die ganze Elektrizität im Gehirn, was man damit machen könnte, und jetzt knallen alle Nase lang die Sicherungen raus und das Licht geht aus. Status Epilepticus, Kurzschluss, Nacht in allen Zellen. Vor allem, wenn dir etwas nahegeht. Zu viele emotio nale Reize, und peng! ein Blitz, und du siehst alles in schönste Farben getaucht, bevor du der Länge nach hinknallst und dir irgendwann endgültig den Schädel einschlägst, sogar ohne Mithilfe eines Mannes, komplett mit Schmatzen, Sabbern, wilden Zuckungen, Schaum vor dem Mund und einem Schrei hier und da als Garnierung. Unheilbar, sagen die Ärzte, jedenfalls meine Form! Ich nehme natürlich Tabletten – Valproat, Lamotrigin, Carbamazepin, die ganze Palette.«
    »Kannst du denn dann überhaupt noch als Therapeutin arbeiten?«, hatte Ella wissen wollen, und die Antwort war typisch Anni gewesen: »Ja, mit Pflanzen. Die stört es nicht so, wenn ich mitten in einer Sitzung mal eben auf sie drauffalle.«
    »Du bist Gärtnerin geworden? Du hast keine Patienten mehr?«
    Anni hatte mit den Schultern gezuckt. »Ich darf keine mehr haben, die Zulassung wurde wiederrufen. Natürlich halte ich mich nicht daran, die Leute wollen schließlich weiter zu mir kommen, um mit mir zu reden. Ich nenne mich jetzt aber anders – Soul Stylist. So was Ähnliches wie Hair Stylist, bloß dass ich mich um die Strähnchen und Extensions der Nerven kümmere. Waschen und Legen für die Seele. Mit der Gärtnerei beschäftige ich mich nur zur Tarnung, in einem kleinen Gewächshaus, falls die Psychiatrische Gesellschaft ihre Häscher ausschwärmen lässt.«
    »Und wie kommst du mit den Patienten zurecht?«, hatte Ella vorsichtig eingewandt.
    »Gut.« Über Annis Gesicht war ein Lächeln gehuscht. »Ohne meine Patienten wäre ich in der ersten Zeit nach Patrick verloren gewesen. Ich habe vorher immer gedacht, die brauchen

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