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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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mich , aber da ist mir plötzlich klar geworden, dass ich sie mindestens genauso brauche. Jetzt geben sie mir den Halt, den ich ihnen vielleicht vorher gegeben hatte. Ich merkte auf einmal, wie nah sie mir standen, all diese Menschen, deren Seele eine Verletzung zugefügt worden war, ohne dass sie je ganz in Worte fassen können, wann oder von wem oder sogar was für eine genau.
    Bis zu dem Moment, als ich meinen ersten Anfall hatte, war ich innerlich manchmal etwas irritiert, wenn wieder einer so einen messianischen Glanz in den Augen hatte oder ein anderer mich mit einem verschwörerischen Flüstern in die Botschaft einweihte, mich an dem Geheimnis teilhaben ließ, das ihm die Stimme verraten hatte. Wenn sie da saßen und kein Wort hervorbrachten oder aber nicht aufhören konnten zu quasseln oder dauernd an etwas herumzupften oder unsichtbare Flusen von ihrem Knie wischten oder einfach nicht wieder gehen wollten, nachdem man sie vorher fast über die Schwelle und auf die Couch tragen musste. Ich hätte es nie zugegeben – vielleicht ist es mir nicht mal bewusst geworden –, aber es war so.«
    Das ist sie, meine alte Anni, hatte Ella gedacht, niemand kann sie bremsen, wenn sie sich erst mal warm geredet hat.
    »Ich meine«, Annikas Augen hatten zu funkeln begonnen, als sie das sagte, »es sind Menschen dabei, die albanischen Türstehern Angst machen und Priester an Gottes Weisheit zweifeln lassen. Die ohne Auto durch eine Waschstraße laufen und dabei so tun, als hätten sie ein Lenkrad in beiden Händen oder nachts in Panik aufwachen und durch alle Zimmer rennen, weil sie Brandgeruch in der ganzen Wohnung riechen, ohne auf den Gedanken zu kommen, dass es ihr eigenes Gehirn ist, das gerade in Flammen aufgeht. Aber diese Menschen haben mich gerettet wie ein Netz, in das ich fallen konnte. Und deshalb ist es ganz gut, wenn man ab und zu auch mal den eigenen Verstand mit heruntergelassenem Verdeck durch die Waschstraße fährt, bis die Elektrik total zusammenbricht, und man dafür nach dem ganzen Gewische, Gebürste und Gewienere in vollkommener Dunkelheit am anderen Ende mit nassem, funkelndem Herzen ans Licht kommt, wenigstens für kurze Zeit.«
    Endlich hatte Ella einen Fuß in die Tür gekriegt: »Und dieser Patrick, dem du das alles verdankst – was ist aus dem geworden?«
    »Nichts.«
    »Dem ist nichts passiert? Wieso nicht?«
    »Er ist Polizist, von New Scotland Yard. So was wie ein Heiliger für seine Kollegen.«
    »Wo lernt man denn einen englischen Polizisten kennen?«
    »Im Urlaub, auf Malle. Es hat sofort gefunkt, nachts am Strand, in der Brandung, der reinste Kitsch. Deswegen bin ich ja nach London gezogen – der Liebe wegen …«
    »Siehst du ihn noch manchmal?«
    »Nein.«
    »Aber du weißt, wo er wohnt?«
    »Natürlich. Am Anfang stand ich manchmal nachts vor seiner Tür und wusste nicht, wer da lebt oder was ich da wollte. Jamais vu, so ein Symptom von Epilepsie. Und manchmal stand ich da und dachte, ich wäre schon einmal da gewesen und hätte es getan, ihn umgebracht, meine ich.«
    »Déjà vu«, hatte Ella festgestellt. »Auch ein Symptom.«
    Jetzt, vierzehn Monate später, starrte sie um halb zwei Uhr morgens auf Annis drei Wochen alte E-Mail:
    Du errätst nicht, wen ich kürzlich wiedergesehen habe! Patrick! Genau – den Mann, dem ich alles verdanke, was ich heute bin …
    Warum ist es in London nicht mehr sicher für dich, Anni?, dachte sie. Was ist seitdem passiert? Als sie Annika damals endlich ans Telefon gekriegt hatte, hatte sie die Freundin geradezu bombardiert mit Fragen: »Hat der Scheißkerl dich bedroht? Brauchst du Hilfe? Soll ich kommen? Wie kannst du so ruhig bleiben? Bist du sicher, dass es eine zufällige Begegnung war?«
    Anni hatte gelacht. »Ich kann schon auf mich selbst aufpassen, Süße. Ich bin nicht allein.«
    Ella versuchte, sich an das Gespräch genau zu erinnern, an das Lachen, wie es klang, ob das Tablettendöschen gescheppert hatte, irgendwo im Hintergrund.
    Danach war keine E-Mail mehr aus London gekommen, auf die Ella hätte antworten können. Sie hatten nur noch ein paarmal telefoniert, und von Patrick war nicht mehr die Rede gewesen. Was bedeuten deine Anrufe, Anni? Hast du die anderen Mails an mich wirklich geschrieben oder hast du dir das nur eingebildet?
    Ella sah im Papierkorb nach, ob sie aus Versehen was gelöscht hatte. Keine Mail von Anni. Zur Sicherheit überprüfte sie noch den Werbung-Ordner, wo die Spam-Mails landeten. Da lagen sie, drei E-Mails

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