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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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die Post auf den Dielenboden fiel, ein paar Briefe, dann eine Zeitung, die im Schlitz stecken blieb. Doch die Erleichterung währte nur kurz.
    Er hat meine Telefonnummer. Er weiß, wo ich wohne. Jeder kennt meine Telefonnummer, alle wissen, wo ich wohne.

1 3
    Es war ein schöner, klarer Oktobertag, als Ella das Haus verließ und zur U-Bahn ging. Der Himmel war von einem stechenden Blau, und die Luft roch frisch und herbstlich nach dem in der Nacht abgefallenen Laub der Bäume, das die Straßen bedeckte. Das Blau des Himmels und die Kronen der Akazien spiegelten sich auf den Windschutzscheiben der geparkten Autos, sodass man nicht sofort erkennen konnte, ob jemand in einem Wagen saß oder nicht. Ella be merkte die beiden Männer in dem schwarzen BMW Touring erst, als sie die U-Bahn-Station Eisenacher Straße fast erreicht hatte.
    Die Männer sahen nicht zu ihr herüber, auch nicht, als sie fast direkt vor ihnen die Straße überquerte. Sie fuhren langsam weiter, und als sie vorbei waren, konnte Ella sehen, dass sie in ihre Rückspiegel starrten, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Sie tat, als könnte sie sich nicht entscheiden, in welche Richtung sie gehen wollte. Der BMW hielt an der Ecke, obwohl die Ampel grün war, und da wusste Ella, dass sie es sich nicht einbildete und dass es sich auch nicht um einen Zufall handelte.
    Sie wandte sich nach links, ging schnell auf die Apostel-Paulus-Kirche zu und nahm den Fußweg zwischen dem Spielplatz und dem angrenzenden Schulhof, wo ihr der Wagen nicht folgen konnte. Sie sah, wie die Beifahrertür aufgestoßen wurde. Einer der Männer sprang aus dem Wagen, dann war sie an der Treppe, die sie schnell hinunterlief. Sie hörte den Zug kommen und begann zu rennen, stürmte die nächs te Treppe hinunter und erreichte den Bahnsteig, gerade als die Türen der Waggons geschlossen wurden. Zwei Bundespolizisten mit kugelsicheren Westen, Maschinenpistolen und Gasmasken patrouillierten neben den Gleisen. Ella zwängte sich in den letzten Wagen, froh, dass die Tür sich sofort wieder schloss.
    Der Zug setzte sich in Bewegung. Ella hielt nach ihrem Verfolger Ausschau, aber niemand kam auf den Bahnsteig gelaufen, niemand blieb enttäuscht oder wütend und außer Atem zurück, wie man es in Filmen so häufig sah. Nur die beiden Polizisten fingen ihren Blick auf, bevor sie aus ihrem Sichtfeld glitten.
    Die ganze Fahrt bis zur Virchow-Klinik dachte sie an die beiden Män ner und an den Anruf des Sanitäters. Sie dachte auch an Julians Verrat und Annis Verschwinden, und schließlich dachte sie an den Anschlag von gestern Abend und die Toten und Verletzten und das Mädchen auf der Intensivstation. Es ist doch kein schöner, klarer Tag, dachte sie.
    Zum ersten Mal sah sie sich die anderen Passagiere genauer an: Schüler in kleinen Gruppen, Mädchen und Jungen mit Handys, ein paar verirrte Touristen aus Japan, zwei türkische Frauen mit Kopftüchern, mehrere Farbige in unauffälliger Kleidung. Niemand, der Argwohn erweckte oder besorgt wirkte, obwohl die Bildschirme an der Waggondecke flackernde Bilder von den Rettungsarbeiten am Hermannplatz zeigten und immer wieder die Zahl der Toten und Verletzten auftauchte. Ella war fast überrascht, dass sie die Bilder anschauen konnte, als hätten sie nichts mit ihr zu tun, als wäre sie gar nicht dagewesen. Dabei hatte sie die Schreie noch im Ohr, und eins der Opfer rang im Krankenhaus mit dem Tod.
    Shirins Augen waren geschlossen, und die vollen braunen Wimpern ruhten wie zwei winzige Fächer auf den muschelglatten Wangen. Das Bett, in dem sie lag, wirkte zu groß, und die Apparate, an denen sie hing, wirkten auch zu groß. Infusionsschläuche führten ihr Nährstoffe zu; ein Verband unter dem linken Auge bedeckte die Wunde, die der Eisenspan geschlagen hatte. Das Piepen, das die Herzstromkurve auf dem Monitor begleitete, war das einzige Geräusch im Zimmer.
    »Irgendwelche Veränderungen?«, fragte Ella.
    »Nein«, sagte der Stationsarzt.
    »Warum wacht sie nicht auf?«
    »Blutwerte und Liquorwerte deuten auf eine postoperative bakterielle Infektion hin, vielleicht eine Meningoenzephalitis. Ihre Körpertemperatur schwankt ungewöhnlich heftig. Das bedeutet, dass wir auch noch ein CT …«
    »Ich weiß, was das bedeutet«, sagte Ella.
    Der Arzt fuhr unbeirrt fort: »Da spielt der Herzfehler, den wir bei der Einlieferung diagnostiziert haben, schon fast keine Rolle mehr.«
    »Wie sind ihre Chancen?«, sagte Ella.
    »Für eine neurologische Prognose

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