Nukleus
ist es augenblicklich noch zu früh. Der richtige Zeitpunkt …«
»Ich möchte nur wissen, womit ihre Eltern rechnen müssen, falls Shirin ihren derzeitigen Zustand überwindet«, beharrte Ella.
»Glauben Sie an Wunder?«, fragte der Arzt.
»Sie nicht?«, fragte Ella zurück. »Aber selbst wenn man nicht an Wunder glaubt, kann ich mich aus meiner Praxis an keinen Fall erinnern, wo ein Patient dreimal – dreimal – hintereinander praktisch klinisch tot war und trotzdem nicht starb, nicht sterben wollte, noch dazu mit einem bis dato undiagnostizierten Herzfehler. Das EEG zeigt doch immer noch Impulse, oder?«
»Ja.«
»Verabreichen Sie Antibiotika gegen die Entzündung?«
»Natürlich, hoch dosiert, auch wenn noch nicht alle Untersuchungs ergebnisse vorliegen. Ich habe aber wenig Hoffnung, vor allem, falls sich noch eine …«
»Die Hoffnung ist ein Risiko, das man eingehen muss«, sagte Ella. »Stammt nicht von mir, ist aber trotzdem gut.«
Der Arzt nickte zweifelnd, und Ella nickte auch. Sie hatte die Hand schon auf der Türklinke, als ein flüchtiger Gedanke aus der Nacht zurückkehrte. »Gibt es hier auf der Station vielleicht eine Schwester namens Samantha?«, fragte sie. »Oder eine Ärztin?«
»Samantha? Nein.«
»Möglicherweise wird sie auch nur Sam genannt.«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Nur so«, sagte Ella und verließ Shirins Zimmer. Schon auf dem Gang hörte sie laute Stimmen, Arabisch und Deutsch, und als sie durch die automatische Tür die Intensivstation verließ, wurde das Klagen und Jammern noch lauter. Es sah aus, als hätte sich Shirins Familie über Nacht verdoppelt: noch mehr junge, unrasierte Männer in Trainingsanzügen, Jeans und Lederjacken, noch mehr junge Frauen mit Kopftüchern und langen Röcken und noch mehr bärtige alte Männer, nachlässig, fast schäbig gekleidet, mit den verschleierten Müttern ihrer Kinder, von denen einige bereits wieder eigene Kinder auf dem Arm hielten oder im Kinderwagen schaukelten.
Die älteren Männer hatten ausgetretene, staubige Schuhe und ungebügelte Hosen an, aber an ihren Handgelenken schimmerten teure goldene Uhren. Die älteren Frauen verteilten Tee aus großen Thermoskannen, und eine zerbrach ein Fladenbrot in mehrere Stücke, die sie reihum anbot. Ihre Söhne diskutierten am Handy offenbar überaus wichtige Geschäfte in einem Tonfall, der darauf schließen ließ, dass ihre Zuhörer entweder äußerst widerspenstig oder sehr begriffsstutzig waren.
Ella erkannte das stark geschminkte Mädchen – Nerin –, das aus der Reihe fiel, weil es sich weigerte, Arabisch zu sprechen. Nerin stand etwas abseits, an die Wand gelehnt, und tat, als ginge der Rest der Familie sie nicht das Geringste an. Sie tippte gelangweilt auf dem Display ihres Smartphones herum. Etwas weiter den Gang hinunter lungerten fünf Kinder, Jungen mit Baseballkappen und Mädchen mit Kopftüchern, vor den Fahrstühlen herum und drückten abwechselnd die Rufknöpfe.
Halil und seine Frau saßen auf einer Bank in der Mitte der Versammlung. Shirins Vater hatte eine schwarze Wollmütze über den großen Schädel gezogen. Er redete mit einem Mann, der vor ihm kauerte und aufmerksam zuhörte. Der Mann trug eine magentarote Fleece-Jacke mit Kapuze, eine weite schiefergraue Baumwollhose mit Kordelgürtel und eine schwarze Baseballkappe. Er kam Ella vage bekannt vor. Sie hatte sein Gesicht schon mal gesehen, aber ihr fiel nicht ein, wann oder bei welcher Gelegenheit.
Als Halil sie entdeckte, sprang er überraschend behände auf und stapfte auf sie zu. »Ärztin«, rief er, »sagen Sie mir, wie es meiner Tochter geht. Wird Shirin wieder gesund? Sie liegt da wie tot. Sagen Sie mir, ist sie tot?«
»Ich bin nicht mehr für Shirin zuständig, Herr Abou-Khan«, sagte Ella. »Ich habe nur ihre Erstversorgung übernommen. Alles weitere fällt in die Zuständigkeit der Ärzte hier auf der Station.«
Halil trat noch näher an Ella heran, bis sie seinen starken, würzigen Geruch, diese Mischung aus Tabakrauch, Leder, Honig und Bratendunst wie ein warmes Kissen auf dem Gesicht spürte. »Nein, Ärztin«, sagte er. »Sie sind für meine Tochter zuständig, solange sie lebt, und Sie sind zuständig, wenn sie stirbt. Also, sagen Sie mir, Ärztin, ist sie am Leben?«
»Sie ist am Leben«, sagte Ella.
»Sie sagen das nicht nur, um uns loszuwerden?«, fragte Halil. »Sie sagen das nicht, weil Sie Angst haben vor dem, was passiert, wenn sie
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