Nukleus
kleines Mädchen um sein Leben, und ihr führt euch auf wie in einer billigen Doku-Soap. Herr Abou-Khan, Sie und Ihre Familie reißen sich jetzt sofort am Riemen, sonst rufe ich die Polizei und lasse Sie aus der Klinik werfen, bevor ich vom Gericht eine einstweilige Verfügung erwirke, die Ihnen verbietet, sich dem Gelände auch nur auf hundert Meter …«
»Kein Richter wird es wagen, mich von meiner Tochter zu trennen«, sagte Halil leise.
»Weil Sie ihn sonst töten?«, fragte Ella wütend. In diesem Moment legte der Mann, den Ella zu kennen glaubte, Shirins Vater eine Hand auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er hatte leuchtende, bernsteingelbe Augen, einen sorgfältig getrimmten Fünf-Tage-Bart und einen zarten, fast weiblichen Mund. Seine magentarote Fleece-Jacke war ein sorgfältig auf Ghetto gestyltes Designerstück; die Snea ker mussten ein Vermögen gekostet haben. Den Schmuck, den er trug – Brillanten in den Ohrläppchen, eine schwere Goldkette um den Hals, zwei erlesene Ringe an beiden Händen und eine Rolex mit massivem Goldarmband –, konnte auf der Straße nur jemand tragen, an den sich auch im Dunkeln niemand ranwagte.
Shirins Vater hörte ihm zu, dann nickte er missmutig. Der Mann ließ seine Hand auf Halils Schulter und führte ihn zur Bank zurück. Dabei sagte er zu Ella: »Entschuldigen Sie, alles in Ordnung, es ist der Schmerz, wir wollen keinen Ärger machen.« Er sagte das nur zu ihr, nicht zu dem Security-Mann – zu ihr und dem zornigen Sohn, der sich nun ebenfalls zurückzog.
»Gut gemacht, Frau Doktor«, sagte eine Stimme hinter Ella. »Aber Sie müssen trotzdem vorsichtiger sein. Das sind sehr gefährliche Leute.«
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Ella drehte sich um. »Und wer sind Sie?«, fragte sie, jetzt selbst gereizt. Vor ihr stand ein Mann in einem karamellfarbenen Sakko, silbernes Haar, silberner Schnurrbart. Er war offenbar aus dem Nichts gekommen, ein scheinbar unbekümmertes Lächeln auf den Lippen.
»Mein Name ist Hassan Abdallah. Ich bin ein Kollege von Oberkommissar Hagen. Oberkommissar Abdallah, der libanesische Cop. Gefällt Ihnen das? Der libanesische Cop? Er hat Ihnen vielleicht schon von mir erzählt.«
»Bedaure, nein.« Ella fand, dass der Mann nicht wie ein Polizeibeamter aussah, sondern eher wie ein Geschäftsmann, der mit allem handelte, was man in drahtgittergesicherten Schaufenstern zahlloser Import-Export-Läden bewundern konnte.
»Ich bin einer der nicht deutschen Beamten im Berliner Polizeidienst«, erklärte er. »Wir werden hinzugezogen, wenn es um Fälle geht, in denen Täter oder Opfer Ausländer sind. Oder, wie man bei Ihnen sagt, einen Migrationshintergrund haben.«
»Wo sind Sie so plötzlich hergekommen?«
Der Mann fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über seinen dichten Schnurrbart und in derselben Bewegung mit dem gekrümmten Zeigefinger über die buschigen Augenbrauen. »Ich gehe durch dunkle Räume und Wände ohne Türen«, sagte er. »Auch Schlösser sind für mich kein Hindernis.«
»Und dabei habe ich nicht mal an meiner Wunderlampe gerieben«, sagte Ella.
Der Mann lächelte, ein Lächeln, das sie an süße Datteln denken ließ. Aus der Innentasche seines teuer wirkenden Sakkos zog er ein Zigarettenetui – silbern wie sein Schnurrbart – und ließ den Deckel aufspringen. Statt Zigaretten enthielt das Etui Kaugummistreifen. »Mecca Gum«, sagte er. »Zimt- und Grapefruitgeschmack.« Ella schüttelte den Kopf, aber er hielt ihr das Etui weiter hin, als wollte er ihre Willensstärke testen. Doch Ella blieb standhaft. Schließlich gab er es auf. »Haben Sie eine Minute Zeit?«, fragte er.
»Wo ist Oberkommissar Hagen?«, wollte Ella wissen.
»Er ist mit anderen Ermittlungen beschäftigt. Wir haben immer noch keinen Hinweis auf die Identität des Mannes, der sich gestern in der U7 in die Luft gesprengt hat. Das ganze LKA, das BKA und sogar der Geheimdienst arbeiten an der Aufklärung des Anschlags. Haben Sie nicht gesehen, was in den Straßen los ist, die Straßensperren am Brandenburger Tor, im Regierungsviertel? Die Pressekonferenz des Kanzleramts? Sie und Ihre ganze Klinik hier sind nur ein Steinchen im großen Chaos-Puzzle.« Er beugte sich vertraulich vor. »Ich möchte Ihnen etwas über Halil Abou-Khan erzählen.«
»Das hat Ihr Kollege schon getan.«
»Mein Kollege Hagen hat einen anderen Blickwinkel als ich«, erklärte Abdallah, schob sich ein Mecca Gum in den Mund und begann fröhlich zu kauen. »Er hat kein Gefühl für die Wut auf
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