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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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die Richtige war, um irgendeinen Mann zu beurteilen.
    »Weißt du nicht, wessen Schüler er war?« Anni ließ sich nicht be irren. »Professor Bruno Kaminski. Und dein Julian ist genau der gleich Typ.«
    »Kaminski?«, hatte Ella gegrummelt, obwohl jeder, der auf ein Studium an der Charité zurückblickte, diesen Namen zumindest gehört hatte.
    »Ein Phänomen, der Mann«, Annis Miene sprach Bände. »Bruno Kaminski war früher hier Erster Oberarzt der Neurochirugie. Für die einen medizinisches Urgestein, für die anderen schlicht ein Kotzbrocken in Weiß. Wenn er nicht gerade in seinem geliebten OP Wunder vollbrachte, widmete er sich seinen geliebten Studenten, denn außer dem Skalpell bedeutete ihm nichts mehr, als zu lehren.«
    »Klingt doch sympathisch.«
    »Lass mich ausreden!« Anni hob eine ungeduldige Hand. »Kamins ki war ein Asket – kein Luxus, keine Bequemlichkeit. Er hatte keinen Fernseher, kein Auto, nicht mal einen Führerschein. Der einzige fahr bare Untersatz, den er akzeptiert hätte, wäre wahrscheinlich ein römischer Streitwagen gewesen, nein, Quatsch, ein Triumphwagen, aber den Mann neben Cäsar – den, der immer geraunt hat: Vergiss nicht, dass du sterblich bist! – hätte er hochkant hinten runterbeför dert. Kaminski ging nie ins Restaurant, auch nicht ins Theater, er hörte keine Musik, außer vielleicht mal die Matthäuspassion , um herauszufinden, wo die Arterien, Venen und Nervenbahnen von Bachs kleiner Kirchenmusik verlaufen. Kaminski brauchte keine Zuneigung, keine Freundschaft, Liebe schon gar nicht, höchstens hier und da ein bisschen Bewunderung. Den interessierte nur die reine Lehre – wenn man was nicht aufschneiden oder rausholen konnte, hatte es in seinem Kosmos nichts verloren. Subdurale Hämatome, spinale Tumore, intrakranielle Blutungen – das waren die Fixsterne an seinem Firmament, da kam er ins Schwärmen. Klingelt’s jetzt allmählich bei dir?«
    »Ganz und gar nicht. Was, bitte schön, hat das mit Julian zu tun?«
    »So einer schart natürlich Jünger um sich«, Anni hatte unbeirrt weitergeredet. »Und mit ihm als Meister hat der richtige Student das große Los gezogen. Und jetzt komme ich zu dem Teil, den Julian mir stolz wie Oskar selbst erzählt hat, nachdem ich ihm einen paar stramme White Russians eingeflößt hatte. Während nämlich die meisten seiner Kommilitonen von Kaminski fast in den Wahnsinn getrieben wurden, weil sie sich an seiner Nordwand die Zähne ausbissen, erstieg Julian ihn auf der Südseite, blühte und gedieh unter seiner väterlichen Hand, denn – Originalton Julian – mit dem untrüglichen Gespür des guten Lehrers hatte der Prof in ihm den einen unter Tausend erkannt, den Virtuosen, den Genialen, der wohlwollend geführt, dem Demut und Erkenntnis beigebracht werden muss, ehe ihm der Purpur der Promotion, die Krone der Habilitation aufgesetzt und das Skalpell des Chirurgen in die Hand gegeben werden konnten.«
    »Originalton Annika«, hatte Ella angemerkt. »Aber was wirfst du Julian denn vor, dass er einen guten Lehrer hatte? Oder dass er fleißig war?«
    »Ich werfe ihm gar nichts vor«, Anni zuckte mit den Schultern, »aber die zwei, drei Male, wo ich ihn mit dir erlebt habe, hatte ich immer das Gefühl, dass er nur so tut, als ob.«
    »Also ob was? «
    »Als ob er glauben würde, sterblich zu sein. Oder sich damit abfinden. Asketen werden meistens völlig unasketisch, wenn es um ihre Selbsteinschätzung geht.«
    An dieses Gespräch musste Ella jetzt denken. Bis gestern Nacht war es ihr nur einmal wieder in den Sinn gekommen, nämlich als Julian ihr kurz danach seine Doktorarbeit gezeigt hatte, Thema: Gefäßerkrankungen von Gehirn und Rückenmark. Schon auf der zweiten Seite war ihr eine verwegene Fußnote aufgefallen, in der Julian aus der Existenz des Gehirns einen Gottesbeweis herleiten wollte.
    Jedes Gehirn, hatte es da geheißen, enthält eine unbestimmbare Anzahl von Zellen, deren obere Grenze auf drei Billionen geschätzt wird. Falls Gott existiert, ist die Zahl »bestimmt«, da Gott es geschaffen hat und weiß, wie viele Zellen es sind. Gibt es keinen Gott, ist die Zahl »unbestimmt« (unbestimmbar), weil niemand sie zählen kann. Da das Gehirn aber existiert, muss es eine bestimmte Anzahl Zellen haben – ergo existiert Gott.
    Und weil er existiert, weiß er, dass du ein egoistisches Arschloch bist, das gerade seine unsterbliche Seele verspielt hat, dachte Ella. Sie leistete Anni stumm Abbitte.
    Das Telefon auf ihrem

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