Nukleus
gestehst mir, dass du eine andere vögelst. Das ist immerhin klar und ehrlich. Aber woher soll ich wissen, dass du nicht zufälligerweise vorhast, morgen wieder in deine andere Welt zu verschwinden? Oder mich aus meiner rauszuschmeißen?«
»Nein«, sagte er. »Das habe ich nicht vor.«
»Du hast mir das Versprechen gegeben, dass du jetzt nicht zu ihr gehst.«
»Ja.«
»Wohin gehst du dann? Zu dir nach Hause?« Sie hörte sich selbst diese Fragen stellen, als führe sie ein Verhör durch, und sie schämte sich dafür, aber wie unter einem Zwang fuhr sie fort. »In die Klinik?«
»Ich weiß noch nicht. Vielleicht gehe ich noch irgendwo was trinken.«
»Du? Was trinken?« Jetzt war der Riss nicht mehr nur in ihrer Stimme; jetzt kam es ihr vor, als liefe er durch ihr ganzes Gesicht. »Wenn du mir schon nicht sagen willst, wohin du gehst, dann sag mir wenigstens, warum du gekommen bist.«
»Das habe ich doch schon gesagt – weil ich dich liebe. Ich brauche dich.« Er trat zu ihr und legte ihr eine Hand an die Wange. Sie verspürte einen leisen elektrischen Schlag, der von ihm auf sie überging; sie verspürten ihn beide. Er wollte sie noch einmal küssen, aber sie wandte rasch den Kopf ab, denn sie fürchtete, die Lüge auf seinen Lippen zu schmecken. Sie stand auf und ging an ihm vorbei ins Wohnzimmer, um ihren Morgenmantel anzuziehen.
Als er ihr folgte, sah sie die Enttäuschung in seinen Augen, die fast wie Schmerz wirkte. Einen Sekundenbruchteil verspürte sie den Impuls, ihn in die Arme zu schließen. Ihm zu vergeben oder sogar um Vergebung zu bitten, weil sie seinen Erwartungen an eine Geliebte nicht entsprochen hatte. Weil sie die Not Verletzter und Sterbender gelindert hatte und nicht die Not in seinem Herzen – oder in seinen Lenden.
Julian zog sein Sakko an, griff sich den Trenchcoat und trat zur Tür. Er hatte die Hand bereits auf der Klinke, als er sich noch einmal umwandte. Er sah aus, als suchte er nach Worten.
»Ein letztes Wort zum Abschied?«, fragte sie.
»Ich wollte, ich wäre dir nie begegnet.«
Ella wich zurück. Die Worte verschlugen ihr den Atem. Sie brachte keinen Ton heraus. Dort, wo eben noch ihr Herz so wild und scharf gepumpt hatte, war plötzlich ein Loch, eine leere Stelle. Tränen schos sen ihr in die Augen. »Hau ab!«, sagte sie leise. »Verschwinde! Ich will dich nicht mehr sehen. Verschwinde aus meinem Leben!«
Er schüttelte den Kopf, dann öffnete er die Tür und ging.
1 2
Im Traum war Ella fast glücklich gewesen, und auch in den Sekunden zwischen Schlaf und Erwachen war sie noch fast glücklich, bis ihr alles wieder einfiel. Sie öffnete die Augen mit dem Gefühl, um ihr Leben betrogen worden zu sein. Manchmal hatte sie Träume, aus denen sie erwachte, ohne zu wissen, wo sie sich befand. In diesen Träumen wiederholte sie missglückte Einsätze, war überall zugleich, verhinderte das Unabwendbare, brachte Patienten, die sie verloren hatte, ins Leben zurück. Anni sagte: Du versuchst übers Wasser zu gehen. Aber es gab keinen Traum, in dem das Wasser Ella bis zum Ufer trug.
Als Erstes fiel ihr die Szene mit Julian wieder ein, dann ihre unter getauchte Freundin und schließlich die Drohung von Shirins Vater auf ihrem Anrufbeantworter. Durch die Jalousie konnte sie sehen, dass draußen ein schöner Oktobertag war, aber sie hatte jetzt keine Lust mehr aufzustehen, und als das Telefon auf dem Nachttisch neben ihrem Bett klingelte, hatte sie auch keine Lust dranzugehen. Bloß dass es sich bei dem Anrufer vielleicht um Anni handelte, und deswegen nahm sie doch ab.
»Ja, hallo?«
Sie hörte jemanden atmen. »Hallo, wer ist da?«, fragte sie. Der Anrufer sagte noch immer nichts. »Anni?« Nein, es klang nach einem Mann, der kurz davorstand, zu hyperventilieren. »Julian, bist du das?«
Abrupt wurde die Verbindung unterbrochen. Ella schloss die Augen wieder, versuchte die Gedanken an Julian loszuwerden, die Vorstellung von ihm mit einer anderen Frau. Warum hatte sie nicht auf Anni gehört? Die hatte nur einen einzigen Abend mit ihm und Ella verbracht – um dem Jungen mal auf den Zahn fühlen –, und danach hatte sie gesagt: »Das wird niemals gut gehen mit euch beiden, kann es gar nicht. Ihr seid euch viel zu ähnlich, merkst du das nicht? Das ist ein Besessener, genau wie du. Na ja, vielleicht nicht ganz so besessen wie du, das geht gar nicht, aber …«
»Stop it«, hatte die frisch verliebte Ella gesagt, und nach Patrick, dem Schlägercop, bezweifelte sie, dass Anni
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