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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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weinen, schluckte noch ein paarmal und wurde wieder ruhig.
    »Willst du wirklich nach London?«, fragte er.
    »Ja.«
    »Geh da bitte nicht allein hin.«
    Sie war schon an der Tür. »Gibt es etwas Neues von Shirin?«
    »Hat Mehlthau dich nicht angerufen?«
    »Ich habe mein Handy ausgeschaltet. Ich war bis eben im Einsatz.«
    Er rieb sich die Stirn. »Das Fieber steigt immer noch, und wenn das so weitergeht, versagt irgendwann auch noch das Herz. Außerdem hat das letzte EEG kaum noch hirnelektrische Aktivität ergeben.«
    »Aber wie konnte es denn dazu kommen? Der letzte Stand war doch, dass sie gute Chancen hat, wieder gesund zu werden, wenn die Antibiotika gegen die Gehirnhautentzündung anschlagen und das Fieber zurückgeht!« Ohne auf eine Antwort zu warten, trat sie auf den Korridor. »Ich muss sofort zu ihr.«
    »Was hast du denn vor?«
    »Die sollen noch ein EEG machen. Und zur Not noch ein CT. Und ein MRT.«
    »Das ist doch alles schon gemacht worden!« In diesem Moment meldete sich Julians Pieper. »Ich muss in den OP. Ella, geh da besser nicht allein hin …«
    »Mach dir keine Sorgen.« Ella hatte das Ende des Korridors erreicht. Sie drückte den Türöffner, der Schließmechanismus surrte und die Tür glitt auf.
    Draußen blieb Ella stehen und lehnte sich gegen die Wand. Sie schloss die Augen, nur einen Moment, damit das Gefühl der Schwärze wegging, das sie plötzlich erfüllte. Sie umklammerte das Handy in ihrer Jackentasche, als wäre es ihre einzige Verbindung zu einer Welt, in der man den Wahnsinn wenigstens vorübergehend aussperren konnte. Schließlich ging sie weiter zur Intensivstation, zu dem Zim mer, in dem Shirin lag. Sie wollte gerade die Tür öffnen, als sie lei sen Gesang hörte, eine sanfte Männerstimme. Sie blieb stehen und lauschte. Der Gesang drang aus Shirins Zimmer, melodisch und doch fremd, monoton. Die Worte konnte sie nicht verstehen, denn sie waren türkisch oder arabisch. Es klang wie ein Wiegenlied. Sacht drückte sie die Klinke und öffnete die Tür einen Spaltbreit.
    Das Zimmer war fast dunkel, nur eine Lampe über Shirins Bett spendete etwas Helligkeit. Das Gesicht des Mädchens schien zu glühen, aber es war nicht schweißbedeckt wie beim letzten Mal, sondern die Haut spannte sich trocken über den kleinen, jetzt sehr markant wirkenden Schädel. Auf einem Hocker neben ihrem Bett saß Rashido, leicht vorgebeugt, die Augen auf Shirins Gesicht geheftet. Er trug nur Turnschuhe, eine formlose Fleece-Jacke und ausgewaschene Jeans, keinen Armani-Anzug, keine Gangsta-Seide.
    In diesem Moment unterbrach er sein Lied. Seine Schultern spannten sich, weil er spürte, dass jemand da war und ihn beobachtete. Er drehte nur den Kopf, bis seine Augen Ellas Blick begegneten, braune Pupillen voller Sorge. Nach ein paar Sekunden wandte er sich wieder Shirin zu. Dann sang er weiter.
    Ella zog die Tür wieder zu und dachte, ich kann jetzt nicht weg hier, ich muss dableiben. Wenn ich hierbleibe, wird sie nicht sterben.
    Das Handy in ihrer Tasche summte. Sie meldete sich. »Ja. Bach.«
    Es rauschte und knisterte in der Leitung, als käme der Anruf von sehr weit her. »Hallo?«, sagte Ella, jetzt lauter. Sie hörte nur die atmosphärischen Störungen, dann ein Knacken.
    »Ella?«, rief eine leise Stimme, die sie nicht erkannte, weil sie entstellt war von der Anstrengung, sich durch die Astralnebel oder Sonnenstürme im All durchzukämpfen. Sie konnte nicht einmal sicher sein, ob sie nicht verhört hatte.
    »Hallo? Wer ist denn da?«
    Das Rauschen und Knistern schwoll an, verschluckte jedes andere Geräusch, dazwischen hörte sich etwas an wie: »… ich …«
    »Anni?« Ella schrie fast. »Anni, bist du das?«
    Dann konnte sie wieder die Stimme hören, nein, mehrere Stimmen, darunter die einer Frau, aber flackernd, schwankend, verschluckt von dem Rauschen einer elektronischen Woge, die sich auftürmte und an ihrer Ohrmuschel brach.
    »Kannst du mich hören?« Sie ging jetzt zur Stationstür, irgendwohin, wo der Empfang besser war. »Ich bin in der Klinik. Der Empfang hier … ich gehe nach draußen …«
    »… keine …« Einen Moment war die Stimme im Handy ganz klar zu hören – und es war Anni, ja, sie war es. Sie musste es sein! Sie war nicht tot, nicht in der Badewanne ertrunken. Sie hatte Angst, das konnte man hören, sie klang gehetzt, »… Hilfe … Gefahr …«, und wenn nur die verdammten Störgeräusche nicht gewesen wären, die alles verzerrten …
    Hilfe. Gefahr. Ella dachte: Ich

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