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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Brief, den Julian von seinem Bürotisch nahm und ihr gab, war schilffarben, aus umweltfreundlichem Papier, im DIN-A5-Format und dick. Er musste mindestens ein Dutzend in der Mitte gefaltete Bögen enthalten. Auf der Vorderseite stand Für Ella Bach – Persönlich, in Annikas unverkennbarer Handschrift, und Ella widerstand nur mit Mühe der Versuchung, ihn auf der Stelle zu öffnen. Hastig steckte sie ihn ein.
    »Woher weißt du, dass er von Annika ist?«, wollte Julian wissen. »Warum hat sie ihn nicht gleich an dich geschickt?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Ella. »Danke, dass du ihn mir mitgebracht hast.«
    »Ich wusste schon immer, dass sie, na ja, etwas kapriziös ist«, sagte er und trat einen Schritt zurück, um sie aus halbnaher Distanz genauer betrachten zu können. »Du bist ganz außer Atem. Deine Augen glänzen, und deine Stirn … Hast du Fieber?« Er beugte sich vor, um nach der Wunde an ihrer linken Schläfe zu sehen. »Tut es noch weh?«
    »Nein.« Ella hörte, dass ihre Stimme fremd klang, sogar für sie selbst. Ihre Augen brannten plötzlich. »Julian, sie ist tot!«
    »Wer?«
    »Anni.«
    »Tot? Aber wann … wie …«
    »Angeblich hat sie sich umgebracht, in der Badewanne. In London.«
    »Woher weißt du das?«
    »Ich habe mit der Polizei gesprochen, heute Vormittag. Ein Polizist war in ihrer Wohnung. Es war ausgerechnet der Typ, der sie damals misshandelt hat.«
    »Das verstehe ich nicht«, unterbrach Julian sie. »Bist du sicher, dass du da nicht was durcheinander…«
    »Nein!« Sie funkelte ihn wütend an. »Sie hätte sich nie umgebracht.« Sie wandte sich zum Gehen. »Ich muss los. Ich muss noch packen und sehen, dass ich einen Flug kriege …«
    Julian kam ihr nach. »Ella! Was hast du vor? Du solltest nichts überstürzt tun. Wie kommst du darauf, dass etwas mit ihrem Tod nicht stimmen könnte?«
    »Das kann ich dir nicht erklären.«
    »Na ja, irgendwann müssen wir alle sterben«, sagte er fast gleichgültig, »und vielleicht ist es für sie so am …«
    »Sag jetzt nicht, dass es für sie so am besten ist!« Ellas Stimme überschlug sich. »Du bist so ein Arsch, Julian! Wieso kann man sich eigentlich neuerdings hundertprozentig darauf verlassen, dass du zu allem immer das denkbar Schäbigste sagst?«
    »Weil du neuerdings aus allem, was ich sage, das denkbar Schäbigste heraushören willst. Sogar wenn ich dir sage, dass ich dich liebe.«
    »Das liegt wahrscheinlich daran, dass du dabei ein Gesicht machst, als hättest du eine neue Dienstleistung ins Angebot genommen.«
    Fast verzweifelt hob er die Hände, die Handteller sichtbar wie auf einem Jesusbild. »Du bist immer so emotional, Ella! Was willst du hören: Es tut mir leid um deine Freundin? Aber dafür kannte ich sie nicht gut genug, und ich mochte sie auch nicht besonders. Sie wird ihre Gründe gehabt haben, und vielleicht hat sie jetzt sogar ihren Frieden gefunden.«
    »Tolle Methode!«
    »Manchmal gibt es keine andere.«
    »Das hängt wohl davon ab, was man für ein Mensch ist«, sagte Ella kalt. »Anni war nicht der Mensch, der sich umbringt. Sie war auch niemand, der den Kopf einzieht. Sie ist manchmal auf Tauchstation gegangen, um in Ruhe Kleinholz aus einem Problem zu machen, aber danach ist sie immer wieder aufgetaucht, und zwar …« Sie hielt inne und starrte Julian an, als würde ihr erst jetzt wirklich klar, über wen sie sprach und was geschehen war. »Sie – sie – Julian …«
    Sie merkte, wie etwas in ihr nachgab, erst in der Brust, dann in den Schultern. Ihr Gesicht wurde heiß, die Glut in den Augen wurde zu Tränen, die sie nicht mehr zurückhalten konnte. Sie verlor die Haltung, krümmte sich heftig vor, und im nächsten Moment hielt Julian sie fest. Er hielt sie und drückte ihren Kopf an seine Brust. Sie wollte das nicht, wehrte sich mit aller Kraft, stemmte sich gegen seine Arme, aber er ließ nicht locker, und das war gut; es war gut. Sie gab ihren Widerstand auf, ihr Körper entspannte sich.
    »Du hast recht«, sagte er leise, sein Mund an ihrem Scheitel, »es ist schrecklich, wenn sich jemand das Leben nimmt, und es tut mir leid. Ich weiß, dass sie deine beste Freundin war und dass ihr euch gerade erst wiedergefunden hattet.«
    »Sie war die einzige«, sagte Ella an seiner Brust. »Eigentlich war sie meine einzige echte Freundin.«
    »Sag mir, ob ich dir irgendwie helfen kann.«
    »Du könntest sie wieder lebendig machen.«
    »So was wollte ich schon immer mal versuchen.«
    Sie hörte auf zu

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