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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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noch lebst, brauchst du vielleicht meine Hilfe.
    Aber was ist, wenn du schon tot bist und Shirin heute Nacht stirbt? Sie verbrennt bei lebendigem Leib, weißt du.
    »Kommen Sie sofort her, Ärztin!«

2 8
    Irgendwann auf der Fahrt zur Klinik waren ihr sämtliche Gefühle verloren gegangen, und als sie vor der Notaufnahme aus dem Taxi stieg, hatte sie keine mehr übrig. Ella stellte ihre Reisetasche im Schwesternzimmer der Rettungsstelle ab und ging hinaus in den Vorraum mit den Aufzügen. Sie sah die Kranken und Verletzten und das Blut, aber nichts berührte sie. Sie hörte Patienten stöhnen oder wimmern und ging weiter. Sie betrat den Aufzug. Sie drückte den Knopf für die Neurochirurgie. Sie fühlte nichts, keine Sorge, kein Mitleid, keine Angst. In der Edelstahlverblendung des Fahrstuhls sah sie ihr Spiegelbild und dachte: Robodoc.
    Mechanisch verließ sie den Lift, ging auf die Tür der neurochirurgischen Station zu und sah die ganzen Leute, die nicht hierher gehörten, die zu dieser späten Stunde hier nichts zu suchen hatten. Neugierig musterte sie die Männer und Frauen, sogar Kinder, die ihr entgegenstarrten. Alle sahen angespannt aus, ungesund und müde, wie die meisten Menschen nachts in Krankenhausräumen aussahen. Ein paar der Frauen trugen Schleier, die Mädchen Kopftücher. Nerin war nicht dabei, auch Amal fehlte. Die Männer hielten Smartphones in den Händen, bis auf einen alten Mann, dessen Finger unruhig über die Perlen einer Gebetskette wanderten. Die Kinder hatten erwachsene Augen, die nur beobachteten, schlaue, wissende Augen. Sie schienen alles zu berechnen, aber wenig zu erwarten.
    Vor der Tür zur Station standen zwei uniformierte Männer vom Sicherheitsdienst, ein Farbiger und ein Weißer, beide mit kräftigen Nacken und raspelkurzem Haar. Belagerungszustand, dachte Ella beiläufig. Mechanisch zeigte sie ihren Ausweis und drückte auf den Türknopf. Die Tür öffnete sich, dahinter der Gang, der ihr heute enger erschien als sonst. Sie ging weiter, durch den schwach beleuchteten Korridor, verfolgt vom Geräusch ihrer Schritte, härter als sonst, keine Gummisohlen, keine Gefühle, die mechanische Ärztin.
    Am Ende des Gangs sah sie die Menschentraube vor der Intensiv station: Julian war da, sein Kollege Mehlthau, Shirins Vater, seine Frau und ein schlanker, bärtiger Mann, der eine Art Kaftan trug, außerdem Shirins Onkel, der Rapper. Eine Stationsschwester und ein Pfleger standen unschlüssig in einiger Entfernung. Als Julian Ella bemerkte, ließ er die anderen stehen und kam ihr schnell entgegen.
    »Was machst du denn hier? Ich dachte, du bist längst …« Er sah sie besorgt an. »Hast du eine Ahnung, was hier los ist, wenn das Mädchen stirbt? Du bist hier nicht sicher.« Er hatte fast geflüstert. Jetzt sah er sich um, und Ella folgte seinem Blick.
    Halil Abou-Khan und seine Frau saßen auf Plastikstühlen vor dem Zimmer ihrer Tochter. Shirins Vater starrte reglos vor sich hin, in seiner Welt versunken. Er musste Ella kommen gehört haben, aber er blickte sie nicht an.
    »Was ist passiert?«, fragte sie Julian.
    »Ich habe veranlasst, dass noch ein EEG durchgeführt wurde«, sagte er, »von einem Kollegen, der über mehr Erfahrung in der Intensivbehandlung von Patienten mit Hirnschädigungen verfügt als Mehlthau. Es hat sich herausgestellt, dass das Ergebnis des ersten nur auf eine zeitweilige hirnelektrische Stille als Begleiterscheinung der Entzündung zurückzuführen war.«
    »Das heißt?«
    »Das heißt, sie ist klinisch am Leben, aber sie stirbt gerade an der Sepsis, die wir nicht in den Griff kriegen.«
    »Wer ist der Mann mit dem Kaftan und der komischen Kopfbedeckung bei Shirins Eltern?«
    »Ein Imam.«
    Ella sah wieder zu Halil hinüber, und jetzt wandte er ihr das Gesicht zu und begegnete ihrem Blick ausdruckslos, so als hätte es seinen Befehl vorhin am Telefon gar nicht gegeben. Sie ging zu ihm und blieb vor ihm stehen. »Ich bin da«, sagte sie. Er sagte nichts. Er brauchte nichts zu sagen. Er sah sie nur an und nickte langsam.
    Seine Augen glänzten, und bei jedem anderen hätte sie diese winzigen glänzenden Punkte in den Pupillen für einen warmen Schimmer gehalten. Doch auch jetzt, in diesem Moment, waren Halils Augen weder warm noch sanft, sondern erfüllt von einem kalten Glitzern: die von fern sichtbare Spitze eines Eisbergs in der Nacht.
    »Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, fuhr Ella ihn an und holte ihr Handy aus der Jackentasche.
    »Ich will es nicht sehen«,

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