Nukleus
flackernden Licht der Explosion, und es war nur ein Reflex, der sie die Verbindung unterbrechen ließ.
Wie in Trance schaltete sie das Handy wieder auf Stand-by und holte Annikas Brief heraus, mechanisch, um irgendetwas zu tun. Erst als sie wieder las, dachte der Teil von ihr, der die Bilder nicht loswurde, dass sie vielleicht doch irgendwo zwischen den Zeilen für die Vorgänge der letzten Tage eine Erklärung fand, die ihr bisher entgangen war.
Ich weiß nicht, ob du an den Teufel glaubst. Wir haben nie darüber gesprochen, oder? Glaubst du? Nein? Solltest du aber. Ich bin ihm begegnet, in mehreren Gestalten, und alle waren menschlich. Der Journalist – irgendwo in diesem Durcheinander, das sich Brief nennt, habe ich ihn erwähnt – ist inzwischen schon tot. Der Mann von der Deutschen Botschaft in London auch. Sie sind beide ermordet worden, obwohl man versucht hat, es wie Selbstmord aussehen zu lassen. Ich schreibe dir das, damit du erkennst, dass es lebensgefährlich ist, mich zu suchen, und dass ich wahrscheinlich selbst nicht mehr lebe, wenn du diese Zeilen erhältst.
Der, vor dem ich fliehe, kann mich überall finden oder er hat es schon. Natürlich muss ich trotzdem versuchen, stärker zu sein als er, denn er gibt sich ja nicht mit meinem Tod zufrieden. Die Menschen, die in den letzten Tagen gestorben sind oder noch sterben werden, haben nicht zufällig den Tod gefunden.
Ich schreibe dir das alles, obwohl ich befürchten muss, dass auch du nicht mehr lebst, wenn Julian diesen Brief erhält. Es ist meine größte Angst, dass ich die Schuld an deinem Tod tragen könnte, weil ich Luzifer in meine Praxis gelassen und nicht erkannt habe.
Ella verstand jetzt, warum ihre Freundin untergetaucht war. Mit jeder Zeile, jedem Wort wuchs ihre Beklemmung, als läse sie den Brief zum ersten Mal. Sie spürte den Druck auf der Brust, aber mehr noch auf der Seele.
Sie fuhr auf, als ihr Handy klingelte. Sie musste im Sitzen eingenickt sein. Verstört sah sich um, dann nahm sie das Gespräch an. »Ja?«
»Er will dich sprechen«, sagte Julian.
»Wer?«
»Shirins Vater. Aber ich kann ihm sagen, du wärst schon weg. Ich für meinen Teil gehe jetzt jedenfalls. Ich habe morgen einen harten Tag im OP.«
Halil Abou-Khan saß noch immer auf dem Plastikstuhl an der Wand neben seiner Frau und sah auf den Boden zwischen seinen Beinen, als erblicke er dort nur noch den Sand des Libanon, die kahle, trockene Erde, die er nie mehr hatte wiedersehen wollen. Ella sagte: »Das ist das letzte Mal, dass ich komme, wenn Sie es verlangen.« Er stand auf und ging zur Tür von Shirins Zimmer. Er legte eine Hand auf die Klinke, warf Ella einen Blick zu und sagte: »Kommen Sie, Ärztin. Das letzte Mal.«
Er öffnete die Tür, ohne auf Mehlthaus Protest auch nur mit einem Stirnrunzeln zu reagieren. Mit einer knappen Handbewegung scheuchte er Rashido und den Imam zurück, die sich Ella anschließen wollten, als sie vor ihm das Zimmer betrat. Er folgte ihr und schloss die Tür. »Das ist meine Tochter, und Sie haben mir versprochen, dass sie leben wird«, sagte er. »Nennen Sie das Leben?«
Ella sagte nichts, denn sie wusste, dass er von all den Antworten, die sie ihm geben konnte, keine hören wollte.
Shirin lag auf dem Rücken in ihrem Bett, wie seit Tagen, aber jetzt war ihre Haut nicht mehr fiebrig rot, sondern grau wie Asche und trocken, keine Spur mehr von Feuchtigkeit. Der Überwachungs monitor zeigte die Temperatur des kleinen Körpers an: 40,7 Grad. Das gedimmte Licht der Lampe lag auf Shirins ernstem Gesicht.
Dafür habe ich dich nicht auf dem Bahnsteig wiederbelebt, dachte Ella. Wenn dein Herz wirklich schwach wäre, hättest du den Kampf längst aufgegeben, aber das hast du nicht.
»Sie ist tapfer«, sagte Ella. »Aber vielleicht weiß sie nicht, wofür sie kämpfen soll?«
»Was?« Halil Abou-Khan fuhr zu ihr herum.
»Was passiert denn in Ihrer Familie mit den Mädchen, wenn sie älter werden?«, fragte Ella, die Augen weiter auf Shirin geheftet. Sie hoffte, dass ihre Stimme nicht bebte, denn ihr Herz schlug ganz weit oben in der Kehle, direkt unter der Zunge. »Was machen Ihre Söhne mit ihren großen Schwestern? Was werden sie mit Shirin machen, wenn sie ihr Leben leben will? Oder wissen Sie nicht, dass sie die Kleine zum Betteln schicken und dass Amal Nerin gedroht hat, sie zu töten, wenn sie ihren Grips nicht unter einem Kopftuch versteckt und den Mann nimmt, den Sie für sie ausgesucht haben, statt den, den sie liebt?
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