Nukleus
ihr herübergesehen, als sie vorbeigefahren waren. Etwas weiter vorn hatte der BMW gehalten, damit der Beifahrer herausspringen konnte. Es war der, den sie vor zwei Nächten fotografiert hatte; kein Zufall, keine Verwechslung, keine Paranoia.
Sie war jetzt sicher, dass die beiden Männer nicht nur für die Polizei arbeiteten. Sie wusste es, seit sie gestern Nacht Annis Brief gelesen und festgestellt hatte, wie viele Leute, die sie nicht kannte, auf einmal bei LifeBook ihre Freunde sein wollten. Es funktioniert tatsächlich, hatte sie gedacht. LifeBook schlug ihr sogar von sich aus Menschen vor, mit denen sie vielleicht gern befreundet wäre, weil sie ähnliche Dinge mochten oder nicht mochten wie sie. Manche hatten selbst kürzlich Menschen verloren, die ihnen wichtig gewesen waren. Inzwischen wusste sie auch, was von ihr erwartet wurde: Sie hatte gespostet, wie erschrocken sie über den Tod ihrer Freundin war; wie verwirrt, traurig und einsam sie sich fühlte.
Wie gefällt euch das?, hatte sie gedacht. Von jetzt an gibt es zwei Ellas – eine virtuelle und eine dahinter, die ihr nicht sehen könnt, keiner von euch.
Das Verwirrende daran war, dass sie sich tatsächlich getröstet gefühlt hatte, allein durch das Anklopfen von Fremden. Am Morgen, als sie noch einmal auf ihre Seite geschaut hatte, waren es noch mehr geworden, Frauen und Männer, Cliquen, sogar eine ganze Schulklasse. Als hätte sie plötzlich eine teilnahmsvolle Familie gefunden, in die sie nicht hineingeboren worden war.
Warum soll ich das löschen?, dachte sie. Anni wusste ja gar nicht, was sie gerade für eine Entdeckung machte. Dann dachte sie wieder den Gedanken, den sie beim ersten Lesen des Briefs gehabt hatte: Vielleicht hat Annika den Verstand verloren. Vielleicht ist sie ihrer Krankheit einfach nicht mehr gewachsen. Diese merkwürdigen Anrufe, diese eigenartigen E-Mails und jetzt dieser wirre Brief …
Ihr Handy summte. Ella holte es aus der Jackentasche. In ihrem E-Mail-Briefkasten war eine Nachricht von einem unbekannten Absender gelandet. Sie zögerte einen Herzschlag lang. Versuch deine Spuren zu verwischen. Sie öffnete die Nachricht, die nur aus zwei Links bestand. Nicht anklicken, dachte sie und konnte doch nicht widerstehen.
Ein Link führte zu einem Film auf YouTube, das andere zu einem Anbieter namens the-void.com. Sie klickte das zweite an. Auf dem kleinen Displays öffnete sich eine schlichte Seite, über die in schneller Folge Worte und Sätze krochen, Fragen und Antworten von Chat-Teilnehmern, deren Nutzernamen Ella noch nie gesehen hatte: Frauen und Männer, die nicht schlafen konnten oder wollten, weil sie nur mit den Händen über der Tastatur den Heimsuchungen ihrer per sönlichen Gespenster zu trotzen vermochten. Gesichtslose, tonlose Stimmen riefen einander in der hohlen Weite des Netzes verschlüsselte Botschaften zu, tauschten Chiffren aus, schrieben in Kürzeln. Sie lockten und schmeichelten. Sie versprachen Verständnis, Zuneigung, Trost, sogar Liebe.
Neugierig folgte Ella den einzelnen Dialogen, die sich zu einem Gesprächsreigen formierten, wieder trennten und erneut verbanden. Trotz der unterdrückten Traurigkeit, dem gespielten Draufgängertum in den Kommentaren klangen sie nach einer Weile alle gleich, eingebettet in die rechts und links farbig erblühenden Pop-ups mit Werbung für Parfums, Weine, Dessous oder andere Internet-Anbieter zu verwandten Themen.
Ella dachte an geisterhafte Fledermäuse, die durch die Dunkelheit schwirrten und dabei digitale Signale aussandten, um sich nicht zu verirren oder an einem plötzlichen Hindernis zu zerschellen. Zu den Stimmen schienen keine Körper zu gehören, sosehr sie diese auch beschworen; es waren nur ewige Gelüste, ewige Schmerzen, übrig geblieben, nachdem alles Fleisch längst in seinem Grab vermodert war.
Wer schickt mir so einen Link, dachte sie; wozu soll das gut sein? Sie sah auf, blickte sich in dem Warteraum um, als könnte einer der mit ihr in dem anämischen Licht ausharrenden Passagiere dafür verantwortlich sein. Einige der Männer bearbeiteten ihre Laptop-Tastaturen, anderen wischten mit den Fingerspitzen über Tablets oder Smartphone-Displays. Keiner sah in ihre Richtung, natürlich nicht. Aber hinter einer Milchglasscheibe glaubte sie, die Silhouetten von zwei Männern zu sehen, die sich nicht bewegten.
Sie verließ das Internet und drückte die Kurzwahl für Oberkommissar Hassan Abdallah. Er meldete sich nach dem zweiten Klingeln. »Ihre
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