Nukleus
nicht weiß, was mit Shirin ist!«
»Dann setz dich unten in die Cafeteria und warte da, bis jemand dich ruft! Sei vernünftig!«
»Na schön, dann bin ich eben vernünftig.« Ella ließ Julian stehen und fuhr mit dem Lift hinunter ins Erdgeschoss, wo sie sich an einen der kleinen grünen Tische am Rand der riesigen Empfangshalle setzte. Sie holte ihr Handy heraus, um auf ihre LifeBook-Seite zu gehen. Lösch deinen LifeBook-Account. Sie stellte fest, dass die Zahl der User, die ihre Freunde werden oder ihr beistehen wollten, weiter gewachsen war, auf hundertsiebenunddreißig. Ein warmes Gefühl stieg in ihr auf, obwohl auch Firmen darunter waren, die ihr Antidepressiva, Gruppenreisen und Coupons für Schönheitsfarmen anboten. Ein Institut mit dem merkwürdigen Namen Academy of Solace und einer co.uk-Adresse lud sie zu einem virtuellen Besuch ein.
Neugierig klickte sie auf das verschnörkelte Emblem des Instituts, über dem ein gezeichnetes Bild ein villenähnliches Haus auf einem sanft ansteigenden Hügel zeigte, hinter dem die Sonne ihre Strahlen in den Himmel schickte. Flankiert wurde es von zwei schattenspendenden Bäumen. Statt in ein virtuelles Foyer wurde Ella jedoch in einen dunklen Raum geführt, in dem vor schwarzem Hintergrund in roter Schrift ein Rolltext von unten nach oben lief wie der Abspann eines Films im Kino. Der Text – es gab eine englische Version und eine deutsche Übersetzung – las sich wie eine Art Manifest.
Ihr hattet hundert Milliarden Chancen, das hier zu vermeiden. Aber ihr habt entschieden, mein Blut zu vergießen. Ihr habt mich in die Ecke getrieben und mir nur einen Weg gelassen. Das war eure Entscheidung. Jetzt habt ihr Blut an den Händen, das sich nie mehr abwaschen lässt. Ihr habt mein Herz zerstört, meine Seele vergewaltigt und mein Gewissen in Brand gesetzt. Ihr habt geglaubt, es wäre nur das Leben eines erbärmlichen Wesens, das ihr auslöscht. Dank euch sterbe ich wie Jesus Christus, um alle schwachen und schutzlosen Menschen zu inspirieren.
Warum stellt jemand so etwas ins Netz?, dachte Ella. Und warum schickt mir jemand so einen Link? Gleichzeitig kam ihr etwas an dem Text vertraut vor, als hätte sie ihn schon einmal gelesen oder gehört. Aber wo, in welchem Zusammenhang?
Ihr habt es toll gefunden, mich zu kreuzigen. Ihr habt es toll gefunden, Krebs in meinem Kopf zu erzeugen und Schrecken in meinem Herzen und dabei meine Seele zu zerreißen. Ich hätte fliehen können. Aber ich renne nicht mehr davon. Wenn nicht für mich, dann für meine Kinder und meine Brüder und Schwestern. Ich habe es für sie getan …
Der Text ging weiter und weiter, aber Ella hatte keine Lust, ihn zu Ende zu lesen. Sie scrollte vor, um nach dem Verfasser zu schauen. Er war mit Cho Seung Hui unterzeichnet, und als sie den Namen las, wusste sie plötzlich, woher sie ihn kannte. Er hatte vor Jahren in allen Zeitungen gestanden – das wirre Bekennerschreiben eines koreanisch-stämmigen Jungen, der bei einem Amoklauf an einer amerikanischen Highschool mehrere Mitschüler umgebracht hatte. Aber was hatte der Text – trostlos, wie er war – auf der Website eines Instituts mit dem Namen Academy of Solace zu suchen?
Ihr habt nie in eurem Leben auch nur ein Quäntchen Schmerz ge fühlt, und in unserem Leben wollt ihr so viel Leid wie möglich schaffen. Einfach nur, weil ihr es könnt. Ihr hattet alles, was ihr wolltet. Eure Mercedes waren nicht genug, ihr Bastarde. Eure goldenen Ketten waren nicht genug, ihr Snobs. Eure Treuhandfonds waren nicht genug. All eure Ausschweifungen waren nicht genug. Sie reichten nicht aus, um eure hedonistischen Bedürfnisse zu befriedigen. Ihr hattet alles.
Deswegen musste ich euch töten, dachte Ella. Deswegen musste ich mir Pistolen und Gewehre und Munition kaufen und mich mit euch in einem Hörsaal verbarrikadieren, um so viele wie möglich von euch zu erschießen, einen nach dem anderen und am Ende mich selbst. Weil ich ein Mensch unter Menschen war, gefangen zwischen euch in meinem Herzen, in dem ihr alles hattet und ich nichts.
Sie erinnerte sich an den zweiten Link, der ihr vorhin am Flughafen geschickt worden war, zu einem Clip auf YouTube. Schlimmer kann’s ja nicht werden, dachte sie. Einen Click später hörte sie die Schreie aus dem winzigen Lautsprecher ihres Handys gellen. Es war schlimmer. Es war schlimmer, weil es immer noch schlimmer ging, das hätte sie wissen müssen. Sie starrte auf das Display, sah die sterbenden, schreienden Menschen im
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