Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)
Speisesaal mit angrenzender Aussichtsplattform getreten. Himmel und Meer waren zu einer dunkelgrauen Masse verschmolzen, Regen perlte an den Fenstern hinab.
»Macht nichts«, sagte Sheila. »Ich bin sowieso todmüde. Sobald ich mich ins Bett lege, werden mir die Augen zufallen wie einer Schlafpuppe.«
James lachte auf bei der Vorstellung von einer Puppe, die aussah wie Sheila. »Eine Oma-Puppe, das wäre mal etwas Neues. Wenn Sie in Serie gehen, will ich unbedingt auch eine Sheila-Humphrey-Puppe haben!«
»Sie haben zu viel getrunken, James.«
»Ich betrinke mich nie in Gesellschaft, wie Sie wissen. Im Gegensatz zu Ihnen übrigens. Wenn ich richtig gezählt habe, gehen fünf Gläser Champagner plus zwei Gläser Weißwein plus ein Rotwein auf Ihr Konto, abgesehen von den zwei Gläsern Sekt, die Sie zuvor schon auf unseremBalkon getrunken hatten. Macht zusammen gut einen Liter mindestens zehnprozentigen Weins. Sie dürften kaum über sechzig Kilogramm wiegen ...«
»Dreiundfünfzig«, korrigierte Sheila.
»Verzeihung, das macht insgesamt einen Promillewert von – niedrig geschätzt – 2,4. Stündlich baut Ihre tapfere kleine Leber etwa 0,1 Promille wieder ab, vielleicht haben Sie also momentan einen Blutalkoholwert von 1,9. Bemerkenswert, dass Sie noch so gut sprechen können.«
»Sie haben mitgezählt, wie viel ich getrunken habe?«
Er nickte. »Alte Gewohnheit. Ich könnte Ihnen von jedem am Tisch sagen, wie viel er getrunken hat.«
»Das ist zwanghaft, finden Sie nicht?«
»Das im Blick zu haben gehörte zu meinem Job«, erklärte James lächelnd. »Alkohol kann Freund, Feind oder sanfter Verbündeter sein. Je nachdem, wie er eingesetzt wird. Er lockert die Zunge, spült die Wahrheit heraus, entlockt Leuten Geheimnisse, die sie nüchtern nie preisgegeben hätten, und stellt Vertrautheit her, wo sonst gesundes Misstrauen geherrscht hätte. Mit einem Wort, Alkohol ist das beste legale Mittel, um etwas in Erfahrung zu bringen. Viel besser als Folter übrigens, denn er arbeitet ohne Angst. Angst kann die Zunge lockern, keine Frage, aber Alkohol ist besser.«
Sheila fuchtelte mit den Händen. »Ja, das merkt man, James. Hören Sie auf, das ist widerlich. Außerdem ist das alles passé. Sie sind Rentner. Betrinken Sie sich einfach, so wie alle anderen es auch tun, denken Sie nicht über alles nach, und Sie haben mehr von der Reise.«
Sie waren bei ihren Kabinen angekommen. Sheila kramte erneut nach der Schlüsselkarte. Er sah ihr eine Weile zu.
»Sie haben sie in der Hand«, sagte er.
Sie sah ihn böse an. »Das hätten Sie mir auch früher sagen können.«
Sie schloss auf und trat in ihre Kabine. »Gute Nacht, James.«
»Schlafen Sie gut, Sheila.« In seiner Kabine überprüfte James mit raschen Blicken, ob alles unverändert so war, wie er es zurückgelassen hatte. Dieser schnelle Check-up in fremder Umgebung war ihm in langen Berufsjahren in Fleisch und Blut übergegangen und nur noch halb bewusst.
Er setzte sich in den Sessel am Fenster, ließ den Blick über die Kabine schweifen, trommelte mit den Fingern der linken Hand auf dem Beistelltisch herum und dachte nach. Er konnte die merkwürdige Missempfindung, die ihn beim Betreten seiner Kabine beschlichen hatte, nicht einordnen. Während seiner aktiven Zeit hatte er sehr häufig in Hotels, möblierten Zimmern oder Apartments gewohnt und nie große Schwierigkeiten gehabt, sich heimisch zu fühlen. Meist hatte er sich in einem Hotelzimmer nicht so entspannen können wie in den vertrauten Wänden seines Hauses in Hampstead, aber die jeweilige Unterkunft als Zuhause auf Zeit anzunehmen, war für ihn nie ein Problem gewesen. Doch hier war etwas grundsätzlich anders als sonst. Eine Wohnstätte umfing jeden, der eintrat, mit ihrem eigenen Atem, und der Atem dieses Apartments stieß ihn ab, als wäre es ein feindlicher Ort. Er schnupperte. Vielleicht lag es schlicht am Geruch. Aber er roch nichts Besonderes, im Gegenteil, die Mischung aus typischem Hotelzimmer, frischer Meeresluft und einem Hauch von Sheilas Parfüm schmeichelte seiner Nase. Er dachte daran, Sheila zu fragen, ob es ihr mit ihrer Kabine ähnlich ging, verwarf den Gedanken aber sofort. Sie stand mit beidenBeinen so fest auf dem Boden, dass man ihr mit unbestimmbaren Gefühlen schlecht kommen konnte. Sie würde ihn auslachen und seine Missempfindung für die Halluzination eines ausgedienten Geheimagenten halten oder, schlimmer noch, schlicht auf das Alter schieben: Ja, ja, James, in Ihrem
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