Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)
Gerald? Hat es – mit Ihrer beruflichen Vergangenheit zu tun?« Er sah James mit unverhohlener Neugier an.
»Sie meinen mit meiner Geheimdienstvergangenheit? Ja und nein.«
»Waren Sie – Spion in meiner Heimat?«
James schüttelte den Kopf. »Nein, so würde ich es nicht nennen. Jedenfalls habe ich Ihr Land nicht ausspioniert, wenn Sie das meinen. Ich war Angehöriger der britischen Botschaft damals.«
»Das war Ihre Tarnung«, stellte Mr Chandan fest. Seine Augen leuchteten plötzlich. »Das haben Sie die Leute nur glauben lassen. In Wirklichkeit haben Sie natürlich ganz andere Aufgaben wahrgenommen!«
»Nein, ich war wirklich Botschaftsangehöriger«, sagte James nüchtern. »In meiner Jugend war ich längere Zeit in China gewesen, sprach deshalb Chinesisch und kannte mich ein wenig aus. Deshalb wurde ich vom MI 6 dazu ausgewählt, den britischen Botschafter in China vor größeren Fettnäpfchen im gesellschaftlichen Umgang mit Parteikadern zu bewahren. Berater nannten sie es offiziell, Kindermädchen war der inoffizielle Ausdruck dafür. Glauben Sie mir, es war eine anstrengende Zeit. Ich war ständig mit einem Mann zusammen, der weder besonders fähig noch liebenswürdig, aber umso mehr von sich selbst überzeugt war.«
James bemerkte, dass das Leuchten in Mr Chandans Augen verschwunden war. »Aber jetzt sind wir ganz von Ihnen abgekommen«, fuhr er rasch fort. »Sie wurden also Mr Watts persönlicher Assistent. Das erklärt aber noch nicht ganz, wie Sie zum Mädchen für alles hier auf dem Schiff wurden. Dafür sind Sie doch eindeutig überqualifiziert.« Mr Chandan zuckte die Schultern. »Das ist Sache von Mr Watts. Für mich ist es in Ordnung.« Er grinste vertraulich.»Wie gesagt, ich bekomme eine Menge Schmerzensgeld dafür, dass ich in dieser Verkleidung den exotischen Diener spiele. Etwa das Doppelte von dem, was ich noch vor einem Jahr in China als Ingenieur verdient habe.« Er sah auf die Uhr und sprang auf. »Oh, höchste Zeit zu gehen!«, rief er, ins Englische überwechselnd. »Der alte Herr kann Unpünktlichkeit nicht ausstehen.« James ahnte plötzlich, dass Mr Chandans Englisch wahrscheinlich ebenso ausgezeichnet war wie seine Auffassungsgabe und er sich die unbeholfene Ausdrucksweise genau wie den Dhoti nur als Dienstkleidung überstreifte. »Ich müssen gehen jetzt«, setzte Mr Chandan, seinen Fehler bemerkend, schnell hinzu.
Als Mr Chandan gegangen war, trat James auf den Balkon, rauchte noch eine Zigarette und dachte über diesen ersten Tag an Bord nach. Er konnte schlecht benennen, was ihn störte. Er witterte keine akute Gefahr, aber er hatte das irritierende Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Schließlich schnippte er die Zigarette über Bord, schüttelte den Kopf und ging wieder in seine Kabine. Vielleicht waren es einfach nur zu viele Eindrücke für den ersten Tag gewesen. Er konnte sich bestens vorstellen, was Sheila dazu sagen würde: Ach, James. Kaum tauschen Sie den Alltagstrott von Hampstead gegen eine Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer, fühlen Sie sich gleich bedroht und malen Gespenster an die Wand! Er legte sich ins Bett, löschte das Licht und ließ sich durch Sheilas regelmäßige Atemzüge in den Schlaf lullen.
Kapitel 4
James träumte viel und wachte vom Vibrieren des Schiffes früh auf. Die Sonne war noch nicht zu sehen, doch vom Horizont aus färbte sich der Himmel über dem Meer orangerot. James sah auf die Uhr; es war 5.25 Uhr. Er beschloss, sich anzuziehen und zu schauen, ob er irgendwo schon einen Kaffee bekommen konnte. Den Übersichtsplan nahm er mit, auch wenn er sich bereits zu Hause damit vertraut gemacht hatte. Die Victory gehörte mit einer Kapazität von neunhundert Menschen an Bord – sechshundert Gästen und dreihundert Besatzungsmitgliedern – zu den kleineren und damit teureren Kreuzfahrtschiffen. Hatten andere Luxusliner die Ausmaße von großen Einkaufscentern, war die Victory eher mit einer exklusiven Boutique zu vergleichen. Aber es gab alles, was man von einem Urlaubsschiff der gehobenen Kategorie erwarten konnte: Auf Deck 10 lagen die Observation Lounge, das Sonnendeck mit Pool, das Eiscafé, ein kleiner, ringsum mit Netzen umgrenzter Sportplatz sowie eine Joggingbahn und ein Golfsimulator. Ein Deck darunter befand sich das Kinderparadies, ein Kino, ein großes Restaurant, Captain’s Corner sowie das Stardust Theatre für die Abendveranstaltungen. Auf Deck 8 schließlich gab es einen Pub, ein kleines Fischrestaurant, ein Spielcasino,
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