Null
waren die Eintretenden nur Umrisse. Erst wenn die Tür wieder zufiel, konnte er ihre Gesichter erkennen – und entscheiden, ob sie für die Regierung arbeiteten.
Die Verschwörer waren überall; das war ihm jetzt klar. Er konnte spüren, wie sie ihn beobachteten, seine Gedanken auszuspionieren versuchten, aber das ließ er nicht zu. Wenn er ihnen nur immer einen Schritt voraus blieb, würden David und er sie besiegen. Bis jetzt hatte er getan,was er konnte, damit sie David nicht in die Finger kriegten. Jasper wusste jedoch, dass es bald David sein würde, der Jasper retten musste. Aber das war schon in Ordnung. Dafür waren Brüder da – um aufeinander aufzupassen.
Jasper hatte ausgetrunken und nahm sich nun die Eiswürfel vor, zerbiss sie knirschend. Die dralle Bedienung bemerkte sein leeres Glas und schlenderte herüber.
«Noch ’ne Cola, Schätzchen?»
«
Gern- Stern-fern-lern
», sagte er und tat sein Bestes, während der Reime die Stimme zu senken. Die Bedienung sah ihn schief an und ging zum Tresen zurück. Jasper atmete langsam aus. Es war fast so weit. Er konnte es schon spüren … Scheiße, er konnte es fast
riechen
. Aber es war nicht dieser andere Geruch. Der Geruch hier war gut, sauber und rein. Es war der Geruch der Wiedergutmachung.
Er hatte die ganze Zeit über Recht gehabt, und sie hatten ihn weggesperrt. Weit, weit weg, weil sie Angst vor der Wahrheit hatten, die in seinem Geist verborgen lag. Aber jetzt … jetzt war die Wahrheit frei.
Er
war frei. Endlich war ihm klar, was die Stimme ihm die ganzen Jahre über zu sagen versucht hatte. Es war dermaßen offensichtlich; er verstand überhaupt nicht, warum er die Antwort nicht schon früher gewusst hatte. Aber jetzt wusste er Bescheid. Und bald würde auch David Bescheid wissen.
Noch vor einer Woche hätte David sich gewehrt. Er hätte Jasper bloß ängstlich angeguckt. Als David ihn so angeguckt hatte, hatte Jasper das Gefühl gehabt, fast hören zu können, wie sein Bruder leise flüsterte:
Bitte nicht mich … bitte lass mich nicht auch so werden.
Jasper hatte diesen Blick nie ausstehen können, aber mit der Zeit hatte er ihn verstanden. Er warf es seinem Bruder nicht vor; wäre es umgekehrt gewesen, hätte Jasper sich genauso verhalten.
Die Bedienung brachte ihm seine Cola (ohne Lächeln),und Jasper leerte das Glas in drei langen Zügen. Das kohlensäurehaltige Gesöff brannte in seiner Kehle, aber das war ihm egal. Es war so gut, dass er nicht anders konnte. Seit er die Wahrheit gesehen hatte, fühlte sich alles gut an – die Rillen der in den Holztisch gekerbten Kritzeleien; das glatte, kühle, beschlagene Colaglas unter seinen Fingern; sogar die muffige, verrauchte, biergeschwängerte Luft in der Kneipe – es war alles so perfekt, so wirklich, so präsent.
Die Tür schwang erneut auf, und Jasper blinzelte in das grelle Licht. Drei dunkle Gestalten traten ein. Als Erstes kam die Frau. Die Stimme hatte ihm von ihr erzählt. Sie würde eine starke Verbündete sein, aber jetzt war sie noch gefährlich, mit Vorsicht zu genießen. Als Nächstes kam ein Mann mit buschigem grauem Haar. Das musste Davids ehemaliger Professor sein, Doc. Jasper hatte ihn schon einmal getroffen. Er mochte ihn. Er war klug. Er würde verstehen.
Schließlich erkannte er die dritte Gestalt. Es war sein anderes Ich, dasjenige, das außerhalb von ihm existierte. David, sein Zwilling. Nachdem die Tür zugeschwungen war, beobachtete Jasper die Augen seines Bruders. Sie hatten einen wilderen Ausdruck als früher. Davids Blicke schossen mit paranoider Verstohlenheit hin und her, bevor sie sich auf Jasper richteten.
Jasper hatte Augen wie die seines Bruders schon oft gesehen, aber immer hinter den weißgrauen Wänden der diversen Psychatrien, die er in den letzten drei Jahren aufgesucht hatte. Jasper nickte, entspannte sich zum ersten Mal seit seinem Wiedererwachen vor vier Tagen.
Sein Bruder war endlich bereit.
Teil 3 // Der Laplace’sche Dämon //
Die Quantenmechanik ist sehr achtungsgebietend. Aber eine innere Stimme sagt mir, dass das noch nicht der wahre Jakob ist. Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass
der
nicht würfelt.
Albert Einstein, Physiker des 20. Jahrhunderts
Gott würfelt nicht nur mit dem Universum, sondern wirft die Würfel manchmal so, dass wir sie nicht sehen können.
Stephen Hawking, Physiker des 21. Jahrhunderts
Kapitel // 25
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